Das Auge der Seherin
Prinzessin. Aber wie hatte sie sich verändert. Schmal und weiß war ihr Gesicht, das ihn immer an eine Rose erinnert hatte. So zart und rosig und voller Leben war es gewesen und immer von Freude erfüllt. Davon war nichts mehr zu sehen. Ihre Augen blickten gehetzt.
„Gebt Ihr mir jetzt das Pferd?", fragte sie. „Prinzessin!"
„Ich brauche ein Pferd. Bitte. Wenn Ihr jemals den König oder mich geliebt habt, dann ..." „Wohin wollt Ihr?"
„Fort." Sie blickte ihn unbewegt an, zeigte nicht einmal ein Lächeln. Sonst hatte sie immer gelächelt, ein bisschen wenigstens.
„Dann stimmt es. Ihr seid wahnsinnig geworden!" Die Worte rutschten ihm einfach so heraus. Einen Augenblick lang blitzte die vertraute Lebendigkeit in ihrem Gesicht auf. „Meine alten Freunde haben dieses Geschwätz auch noch geglaubt? Sehe ich denn so wahnsinnig aus?"
Eric lächelte. Er blickte sie an und wunderte sich, solchen Gerüchten Glauben geschenkt zu haben. Sie war bei Verstand, aber trotzdem stimmte etwas nicht mit ihr. Er zog sie in den Schatten des Stalles und legte warnend einen Finger an seine Lippen. „Wo seid Ihr die ganze Zeit gewesen, Prinzessin?", fragte er leise.
„Vesputo hat den König ermordet und möchte mich zur Heirat zwingen. Seit dem Tod meines Vaters war ich seine Gefangene in meinem eigenen Haus. Er sagt, meine Mutter würde getötet werden, wenn ich auch nur ein Wort mit ihr spräche." Die Worte stürzten wie ein Wasserfall aus ihrem Mund.
Eric Lächeln erstarb. „Ve-Vesputo, ein Mörder?" Ja, Eric. Bitte!", drängte sie. „Wir müssen uns beeilen! Ich bin gerade erst entkommen, ich brauche ein Pferd."
Eric sah ihr bleiches, flehendes Antlitz und ihre schmalen, ineinander verkrampften Hände. War das also die Wahrheit, die er im tiefsten Innern geahnt hatte? Ein Mörder, der sich als König ausgab? Er spürte ein Rauschen in seinen Ohren. In seinen Armen und Beinen war ein taubes Kribbeln.
Er nickte, öffnete die Stalltür und nahm beim Eingang eine Laterne vom Haken. Torina folgte ihm. Das Licht der Laterne flackerte und tanzte. Die Pferde wurden unruhig. Torina ging zur Box von Amber. „Das Pferd des Königs! Wie soll ich sein Verschwinden erklären?"
Sie blieb stehen und verharrte einen Moment ganz still, konnte ihr Zittern aber nicht verbergen. Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihm gerade in die Augen. „Ich habe einen langen Weg vor mir und muss schnell sein. Nur mit diesem Pferd habe ich eine Chance, Vesputo zu entkommen. Sobald er von meiner Flucht erfährt, wird er mich verfolgen. Und Ihr müsst sie glauben machen, Irene habe das Pferd des Königs verlangt. Würde Vesputo denn ein anderes Pferd wollen?" „Wie seid Ihr geflohen? Wer hat Euch bewacht?" Vielsagend blickte sie an ihrem Kleid hinunter. Je weniger Ihr versteht, desto länger werdet Ihr leben. Ach Eric, kommt mit mir mit, damit ich nicht um Euch fürchten muss." Sie zitterte.
Eric schüttelte den Kopf. „Nein, Prinzessin. Ich habe Nassa ein Eheversprechen gegeben. Ich kann sie nicht verlassen." „Bitte, Eric. Ihr könnt sie doch nachkommen lassen. Wenn er je erfährt, dass Ihr mir geholfen habt ..." Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Nein. Das wäre zu riskant für sie. Ihr müsst schon viele Wachen überlistet haben, um so weit gekommen zu sein."
Sie nickte verzweifelt.
„So viele würde Vesputo niemals aufknüpfen lassen. Und wenn er einen von uns verschont, muss er uns alle verschonen."
Sie wandte sich wieder der Box zu und wischte sich wie ein Kind mit den Händen über das Gesicht. Eric half ihr, Amber zu satteln. Sie führte den goldenen Hengst ins Mondlicht hinaus und zog ihn in den Schatten der Bäume.
„Eins habe ich vergessen. Gibt es irgendeinen alten Reitanzug für mich? In diesem lächerlichen Kleid ..." Eric rannte in den Stall zurück und kam gleich darauf mit eine Bündel wieder, von dem er das Stroh abklopfte. Auch zwei dicke Satteldecken brachte er mit. „Hier. Auf dass Ihr heil wiederkehrt." Torina war schon im Sattel. „Welchen Weg muss ich nehmen?"
„Nehmt den alten Pfad zum Fluss. Das ist der einzige unbewachte Weg."
Sie nickte. „Und dann? Ich will nach Desante." „Dann haltet Euch nach Osten. Dort sind wenig Siedlungen, am Fuß der Berge wohnen kaum Menschen und an der Grenze gibt es wenig Soldaten. Vielleicht eine Garnison. Aber über den Misshtpass ist es ein harter Weg." „Danke. Bitte, Eric. Kommt doch mit." Eric lächelte sie unsicher an. „Nein, Prinzessin. So weit bin ich
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