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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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hatte sie Kälte oder Hunger ertragen müssen. Immer war sie von Feuern gewärmt worden, hatte warme, kuschelige Mäntel von der besten Machart getragen und immer reichlich zu Essen gehabt. Jetzt zogen sich am Himmel drohend schwarze Wolken zusammen und obgleich sie wusste, dass der Regen ihre Spuren verwischen und ihrer Flucht nützlich sein würde, wollte sie lieber trocken bleiben. Sie war zu durchfroren, müde und hungrig. Sie war dem alten, überwucherten Pfad gefolgt, den Eric ihr empfohlen hatte, hatte im Mondschein den Fluss überquert und am anderen Ufer den Schutz der Bäume gesucht. Dort hatte sie angehalten, war vom Pferd geglitten und hatte sich in der feuchtkalten Luft in fiebernder Hast umgezogen. Mit Hilfe des Dolches hatte sie ein Loch gebuddelt und Irenes Kleider vergraben. Als sie die bezopfte Haube abgesetzt hatte und das stoppelige, rote Haar schüttelte, musste sie weinen. Das befremdete sie, denn die Tränen, die in ihrer Seele für ihren ermordeten Vater vertrockneten, flossen angesichts der verlorenen Haarpracht in Strömen.
    „Ich bin wahnsinnig, ich bin wirklich wahnsinnig!" Sie stampfte die Erde über Irenes gelbem Zopf fest. Die raue Stallkluft scheuerte auf ihrer Haut. Sie blickte in die Kristallkugel. Zeig mir meine Zukunft, nur dieses eine Mal.
    Im fahlen Mondlicht hoffte sie auf eine Vision. Doch das Auge der Seherin war verschlossen, wie sie befürchtet hatte. Sie bestieg das Pferd und ritt in scharfem Galopp hinaus auf die Ebene, immer den Sternen im Osten nach.
    Weit erstreckte sich vor ihr das wogende Gras. Hier lebten Herden, keine Menschen. Dahinter, verlockend nah, erhob sich das Cheldangebirge, das die Grenze von Archeld und Desante bildete.
    Sie vermutete, dass die Berge näher erschienen, als sie in Wirklichkeit waren. Und sie wusste, wenn ihre Verfolger sie vor den Bergen einholten, würde sie ihr Leben lassen müssen.

Das Pferd war müde und sie führte es an ein Wasserloch, aus dem ein kleines Rinnsal entsprang. „Trink", sagte sie zu Amber und glitt von seinem Rücken. „Trink und friss."
    Die junge Frau und der Hengst standen Seite an Seite und neigten ihre Köpfe zu der matt schimmernden Wasserfläche.
    Ein plötzliches, lautes Klopfen an der Tür ließ Eric gequält zusammenzucken. Er betete, er möge aussehen wie ein Mann, der gerade aus dem Schlaf gerissen wurde. Vor der Tür stand Beron, der Todfeind seiner Jugendzeit, und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen finster an. „Was gibt es?"
    „Komm zum Stall. Der König möchte mit dir sprechen."
    „Wie spät ist es?", fragte Eric gähnend. „Ich habe gesagt, du sollst mitkommen", knurrte Beron.
    „Warum?"
    „Seit deiner Wache ist ein Pferd verschwunden."
    Eric zwang sich zu einem Grinsen. „Ich habe das Pferd ausgegeben. Amber. Für Vesputo. Du willst doch nicht sagen, er habe ein Pferd gestohlen?" „Zieh dich an."
    Beim Stall stand Vesputo unter dem bewölkten Himmel. Er wirkte schneidig und gelassen wie immer. Eric unterdrückte ein Schaudern. Unter den Kriegern hieß es manchmal, vor diesem Mann weiche sogar der Staub. Seine Ruhe während der Schlacht war sprichwörtlich, jetzt machte sie Eric Angst. „Ein Pferd ist verschwunden", sagte Vesputo. Eric schluckte, sein Mund war wie ausgetrocknet. Fast hätte er alles ausgespuckt, die Prinzessin, der Mord ... „Was ist geschehen?", befahl Vesputo. „Also, Irene kam und sagte ..." „Wann?", unterbrach ihn Vesputo. Eric blinzelte und log: „Kurz vor der Wachablösung." „Bist du sicher?"
    Ja, mein Herr. Sie sagte, sie brauchte das Pferd des Königs. Vesputo habe es befohlen."
    „Irene hat dich um mein Pferd gebeten und du hast ihr geglaubt?"
    Am liebsten hätte Eric laut geschrien: Nicht Euer Pferd! Ihr seid nicht König! Ihr seid ein Verräter und der Hengst ist bei seiner rechtmäßigen Besitzerin! Äh, also, ich sah keinen Grund an ihr zu zweifeln." „Für den Dienst habenden Wachmann gibt es immer einen Grund zum Nachfragen. Ich möchte sogar behaupten, dass Fragen stellen der eigentliche Sinn und Zweck der Wache ist. Warum hätte ich eine Frau schicken sollen?"
    „Ich ... ich habe mich auch gewundert, traute mich aber nicht sie zurückzuweisen, da ich Euch als König noch nicht kenne."
    „Und du bist dir sicher, es war Irene?" Vesputo sah ihn prüfend an.
    „Blondes Haar, Herr, und die Art der Kleidung." Eric hoffte, die Angst in seiner Stimme würde der ungewöhnlichen Situation zugeschrieben werden. „Du hast dich wie ein Narr benommen. Du

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