Das Auge der Seherin
Schleier.
Sie ging zur Feuerstelle und zog einen Stein aus dem Kamin. Dahinter befand sich ein Hohlraum, den sie als Kind ausgehöhlt hatte, als Landen mit ihr heimliche Versteckspiele gespielt hatte. Und dort hatten sie vor langer Zeit den kleinen Dolch und ein mit Rubinen gefülltes Samtsäcklein verstaut. Sie erinnerte sich an seinen ernsten Blick, als er damals zu ihr sagte: „Du kannst nie wissen, wann du es einmal gebrauchen wirst." Sie hatte gelacht, da sie sich nicht hatte vorstellen können, dass irgendetwas ihre gesicherte Zukunft einmal würde stören können. Aber es hatte ihr Spaß gemacht, sich im Spiel auf finstere Zeiten vorzubereiten und heimlich Schätze für den Notfall zu verstecken. Dieser Notfall war jetzt eingetreten. Sie zog das Säckchen mit den Juwelen hervor und ließ es in die Tasche zum Kristall gleiten. Dann zupfte sie noch einmal die
Decke über Irene zurecht, nahm das Tablett mit dem leeren Kelch und ging zur Tür.
Sie gab das ihr vertraute Klopfzeichen Irenes und die Tür wurde geöffnet.
Toban warf einen Blick in die Kammer, sah das Bett, nickte abwesend und knuffte sie in die Seite, als sie an ihm vorbeiging. Torinas Herz klopfte zum Zerspringen. Wie würde Irene reagieren? Unter dem Seidenkleid rann ihr der Schweiß über den Rücken. Doch die Berührung des Mannes war irgendwie vertraut gewesen, wie eine alte Gewohnheit. Sie tat, als ob sie nichts bemerkt hätte.
„Gute Nacht", sagte er leise und sie winkte ihm mit zwei erhobenen Finger zu und huschte davon. Sie kannte diese für Irene typischen Geste.
Eric Aldon ging langsam vor den großen Stallungen auf und ab und hielt Wache. Die Stallwache sagte ihm mehr zu als der Posten beim Schloss oder den Baracken. Als König Kareed noch lebte, hatte es weniger Wachen gegeben - der König hatte sich zu Hause immer sicher gefühlt. Doch jetzt wimmelte es hier von Kriegern. Ja, die Ställe waren besser. Nachdem der zweite Wachmann sich für die Nacht verabschiedet hatte, war er wenigstens allein und konnte sich die langen Stunden mit Gehen vertreiben. Die Aussicht war angenehm und das leise Wiehern der Pferde war viel beruhigender als das Gespräch mit anderen Menschen. Er konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen, obgleich seine Gedanken ihm keinen Frieden verschafften. Eigentlich sollte er sich mit seinen vierundzwanzig Jahren noch nicht alt fühlen. Doch er fühlte sich alt und traurig, wenn er bedachte, was in nur zwei Monaten aus dem Königreich geworden war.
Es war, als hätte sich eine Finsternis über Archeld gelegt, die Menschen lachten nicht mehr so viel, noch sprachen sie so laut wie früher.
Vesputo führte sich auf wie ein König, obwohl er doch gar nicht gekrönt war. Alle buckelten vor ihm, als sei es die größte Ehre, ihm zu dienen. Er würde Torina bald heiraten, das wussten alle, doch ..." Eric vermisste die Prinzessin. Sie war immer freundlich gewesen und hatte ihn zum Lachen gebracht. Jeder, der Wache schob, hielt damals nach ihr Ausschau. Wie schade, es hieß, sie sei halb wahnsinnig und ließe niemanden vor außer Vesputo.
Und die Königin? Auch sie bekam niemand mehr zu Gesicht. Sie hatte sich ganz in ihre Gemächer zurückgezogen und es kursierten eigenartige Gerüchte. Seine Gedanken wurden plötzlich vom Geräusch leiser, hastiger Schritte unterbrochen. Eric kannte seine Befehle. Er musste die betreffende Person so laut anrufen, dass die anderen Wachen ihn hören konnten. Trotzdem verzog er sich erst einmal in den Schatten der Ställe und beobachtete, wer da kam.
Eine Frau. Sie trat unter den Bäumen hervor und näherte sich rasch den Ställen. Dieser Schleier, die Haare, das Kleid kamen Eric so bekannt vor. Nur Irene kleidete sich so und ging auf diese Art.
In Rüschen und Spitze gehüllt kam sie auf ihn zu. „Ich brauche ein Pferd. Befehl von Vesputo." Die Stimme klang angespannt.
Erich wurde zornig. „Ihr bekommt kein Pferd, nur weil Ihr Euch auf Vesputo beruft. Tragt Ihr etwa seinen Ring? Und außerdem", er verschränkte die Arme, „noch ist er nicht König. Und Ihr seid nicht die Prinzessin." Schwer atmend stand sie vor ihm, Eric kam es fast vor als keuche sie. Er starrte sie an und ärgerte sich über den Schleier, der ihre Augen vor ihm verbarg, und wunderte sich, dass sie in der kühlen Nachluft keinen Mantel übergezogen hatte.
Da fasste sie mit der Hand den Schleier als sei er bleiern schwer, hob das zarte Gewebe langsam hoch und enthüllte ihr Gesicht.
Die Prinzessin! Es war die
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