Das Auge des Basilisken
Menschenliebe so verhielten, sondern daß ihr Benehmen bloß ein Ausdruck des Neides und der Mißgunst sei, die nichtswürdige Kreaturen wie sie naturgemäß für jeden von seinem hohen Stand empfinden mußten. Viel von dieser Tirade war im Toben der Naturgewalten nicht zu hören, und was zu hören war, blieb Lomow größtenteils unverständlich; er gelangte auch so zu dem Schluß, daß einige Wendungen vom Hufschmied des Regiments hätten stammen können. Der ganze Auftritt war ihm peinlich, und einmal, als es schien, daß der Offizier den Gefreiten schlagen wollte, wofür er von Kugeln durchsiebt worden wäre, denn Ljubimows Unberechenbarkeit hatte ihre Grenzen, geriet er in helle Aufregung. Aber der Augenblick verging.
Plötzlich war alles vorbei, und Lomow starrte einem Mann zu Pferde nach, der sich im Galopp von ihm entfernte.
»Los, komm mit!« schrie Ljubimow. »Weiß der Teufel, wozu er in diesem Zustand fähig ist.«
Es hörte sich halb wie eine Entschuldigung an, aber Lomow lief sofort zu seinem Pferd und saß auf.
Nun, als der frühherbstliche Abend anbrach, begann eine lange Verfolgungsjagd. Ljubimow und Lomow galoppierten dem Flüchtigen nach, setzten über den Zaun und überquerten die nächste Wiese, übersprangen zwei weitere Zäune und kamen auf eine schmale Straße, die sie nach kurzer Zeit wieder verließen, um ein lichtes Gehölz zu durchqueren. Das Gewitter zog ab, ohne einen Tropfen Regen zu bringen. In seiner grauen Uniform und auf dem schwarzen Pferd war Alexander in der Dämmerung nicht leicht auszumachen, und zweimal hätten sie ihn im Waldgebiet beinahe verloren, aber sein Vorsprung betrug nicht viel mehr als hundert Meter, und die gute Ausbildung seiner Leute machte es ihnen möglich, den Abstand zu verringern. Als das Waldgebiet hinter ihnen zurückblieb und sie durch offenes, mit Gebüsch durchsetztes Wiesengelände dahinjagten, hatten sie den Vorteil, einen weiten Bogen, den der Verfolgte ritt, abschneiden zu können. Abseits wetterleuchtete es in den Wolkengebirgen, und einzelne Blitzschläge zuckten so schnell auf das dunkelnde Land herab, daß sie das Auge blendeten und sekundenlang auf der Netzhaut nachglühten.
Diese Schwächung seiner Sicht mochte Lomow daran gehindert haben, den Mann auf dem grauen Pferd zu sehen, bis er beinahe gleichauf mit ihm war. Das Dämmerlicht ließ das Tier in einem ungewissen Grauton erscheinen; bei Tageslicht hätte man vielleicht einen Schimmel darin gesehen, oder einen Falben; es war nicht möglich, seine Farbe genauer zu bestimmen. Lomow dachte, er habe noch nie ein Pferd so still stehen sehen. Sein Reiter, ein hochgewachsener Mann in Schwarz, trug einen Hut, der sein Gesicht beschattete, doch zeigte seine Haltung, daß er die Verfolgungsjagd beobachtete, insbesondere den Gejagten. Er erwiderte Lomows Winken nicht.
Das Gelände wurde unebener. Ein Junge und ein Hund trieben eine Schafherde heimwärts; der Donner schien sich wieder zu verstärken. Bald kam zur Rechten eine Straße in Sicht. Die drei Männer und fünf Pferde, inzwischen beinahe wieder eine einzige Gruppe, galoppierten sie entlang, bis sie eine abseits stehende kleine Kirche erreichten. Hier brachte Alexander sein Pferd mit einem so scharfen Ruck zum Stehen, daß es strauchelte. Er saß ab, gefolgt von Ljubimow und Lomow.
»Haben wir uns wieder unter Ihrem Befehl zu betrachten, Herr Fähnrich?« fragte Ljubimow.
»Sie können sich als alles betrachten, was Ihnen gefällt.« Der anstrengende Ritt hatte Alexanders Wut nicht abkühlen können; noch immer bewegte er die Lippen wie in lautlosen Verwünschungen, und sein finsterer Blick schweifte unstet über das Land. Er vermied es, die beiden anzusehen. Als er fortfuhr, versuchte er seine Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Ich habe hier etwas zu erledigen, was zwei Minuten dauern wird. Wenn Sie entscheiden, anschließend mit mir zu kommen, kann ich Sie kaum daran hindern.«
»Wo sind wir?« sagte Lomow zu seinem Gefährten. »Was ist in der Kirche?«
Ljubimow zuckte die Achseln. Als sie vor die Kirche geritten waren, hatte ein kleiner Mann in einem dunklen Anzug beim Eingang gestanden, als erwarte er jemand, doch hatte er nicht zu ihnen hergesehen. Nun, sei es durch Zufall oder auf Lomows Frage, wandte er den Kopf. Alexander sah das Gesicht eines Fünfzigjährigen, mit fleischigen Wangen und Tränensäcken unter den Augen, in denen ein Ausdruck mäßiger Neugierde glomm, nicht mehr, nicht die leiseste Andeutung einer Drohung.
Weitere Kostenlose Bücher