Das Auge des Sehers (German Edition)
aus, überquerte die Strasse und schaute durch die verstaubten Fenster eines leeren Geschäfts.
«Und, was gibts da so Spannendes?»
«Hier bin ich in meiner Kindheit zum Coiffeur gegangen. Der lebt vermutlich gar nicht mehr.»
«Ist ja auch schon ein paar Jährchen her.»
«Meine Eltern mussten mich jedes Mal dazu zwingen. Dieser Bader kannte nur eine Frisur, den Bürstenschnitt! Aber ich wollte keine kurzen Haare.»
«Das hängt dir noch heute an. Ziemlich langer Zopf für dein Alter.»
Ferrari fuhr sich durchs Haar.
«Es gab jedes Mal ein Drama. Wenn die Haare so richtig schön lang waren, wurde ich skalpiert. Ich hätte dem Kerl den Hals umdrehen können, inklusive meinen Eltern.»
«Und das in einer Zeit, wo alle mit verlaustem, langem Haar und Schlaghosen rumliefen. Nur der kleine Franco durfte nicht. Tragisch.»
«Nicht nur der kleine Franco. Ich habe mir vor kurzem Fotos aus der Primarschulzeit angeschaut. Wir sehen alle gleich bieder und brav aus. Die Zeiten ändern sich zum Glück, denn die Veränderung ist eine Chance und oftmals die einzige Konstante im Leben.»
«Wenn sich der Herr nun wieder von der Vergangenheit in die Gegenwart bequemen würde, könnten wir einen Zahn zulegen. Ich schlag ja schon Wurzeln.»
«Den jungen Menschen fehlt das Verständnis für die Vergangenheit.»
«Wie Sie meinen, Herr Oberdozent.» Nadine schob den Kommissär unsanft zum Auto. «Ich habe heute noch ein Date. Und vorher möchte ich noch einigen Schreibkram erledigen.»
«Ah, deshalb das Tempo. Mit Noldi?», rutschte es Ferrari heraus.
«Das geht dich überhaupt nichts an. Wenn ich es dir erzähle, rufst du sofort Paps in Bern an.»
«Das würde ich niemals tun.»
«Keine Chance, von mir erfährst du nichts. Na, worauf wartest du? Steig endlich ein.»
Beim vierten Versuch klappte es, die Tür war offen. Eigentlich erstaunlich bei einem Schlüsselbund mit unzähligen Schlüsseln. Arians Appartement im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses war wohnlich eingerichtet. Zweckmässige Möbel, ein kleiner Fernseher, Bücher, ein paar Landschaftsfotos an den Wänden, Küche mit Wohnzimmer kombiniert.
«Woher hast du eigentlich den Schlüsselbund, Nadine?»
«Aus der forensischen Abteilung. Woher sonst? Das sind doch die Schlüssel, die Arian auf sich trug … Hier wohnt jemand!»
«Wie kommst du darauf?»
«Es wirkt belebt. Eine Wohnung, die leer steht, sieht anders aus.» Nadine öffnete den Kühlschrank. «Siehst du! Milch, Butter, Eier, Wurst, sogar Fisch.»
«Wer soll hier wohnen?»
«Bin ich die Hellseherin?»
«Dann machen wir jetzt einen raschen Abgang und lassen die Wohnung überwachen.»
«Wir könnten die Nachbarn fragen.»
«Nein, wir schliessen ab und verschwinden. Ruf Stephan an. Er soll eine Streife in Zivil organisieren. Das Wohnzimmer geht auf die Strasse hinaus. Wenn das Licht angeht, sollen sie uns benachrichtigen.»
«Aber nicht heute Abend.»
«Schon klar. Sonst geht dein Date flöten.»
Nadine verzog sich in ihr Büro. Mürrisch starrte Ferrari auf den Papierstapel, der sich auf seinem Schreibtisch gefährlich in die Höhe türmte. Alles längst fällige Büroarbeiten. Nicht mein Ding, dieser Schreibkram, aber es muss auch sein. Als er gegen Abend Nadine etwas fragen wollte, war seine Kollegin bereits ausgeflogen. Mit neidischem Blick betrachtete er den fein säuberlich aufgeräumten Schreibtisch. Nicht so wie bei mir. Was solls. Papier ist geduldig und kann warten. Da kommt es auf ein, zwei Tage mehr oder weniger auch nicht mehr an. Ich glaube, ich mache für heute Schluss. Kaum gedacht, winkte Stephan Moser.
«Es ist jemand in der Wohnung, Francesco.»
«Dann wollen wir mal.»
«Wo ist Nadine?»
«Eine Verabredung.»
«Noldi?»
«Ich schweige wie ein Grab, Stephan.»
Kommissär Ferrari läutete an der Eingangstür. Sekunden vergingen, ohne dass jemand öffnete.
«Die unbekannte Person hat die Lichter gelöscht», flüsterte Moser. «Bist du bewaffnet, Francesco?»
«Nein. Wozu auch? Meine Pistole liegt sicher in meinem Schreibtisch.»
Stephan Moser zog seine Dienstwaffe und entsicherte sie. Ferrari klingelte im Parterre, hielt dem verdutzten Mieter seinen Ausweis unter die Nase, während Stephan sich an ihm vorbeizwängte und in den zweiten Stock stürmte. Ferrari keuchte hinterher und klopfte energisch an die Wohnungstür.
«Hallo! Wir wissen, dass Sie da sind. Machen Sie bitte auf, wir sind von der Polizei.»
Keine Reaktion. Einzig die gegenüberliegende
Weitere Kostenlose Bücher