Das Auge des Sehers (German Edition)
richtiggehend hierher geschlichen. Aber heute lauerte er mir wieder vor dem Geschäft auf, das erste Mal seit Langem. Er wollte mich nach Hause mitnehmen, doch ich weigerte mich vehement. Er lachte höhnisch und drohte mir, dass es mir so wie Arian ergehen würde. Der könne mich ja jetzt auch nicht mehr beschützen. Ich bin einfach weggerannt. Wenn nur diese furchtbare Angst nicht wäre. Sie lähmt mich so.»
Susanne Im Obersteg klammerte sich an Nadine fest. Ihr Puls raste.
«Wir beschützen Sie, das verspreche ich. Es wird alles gut. Schlägt er Sie?»
«Nein. Es geht um psychische Gewalt. Diese dauernden Beschuldigungen, von wegen ich würde fremdgehen, mit allen schlafen. Manchmal weckte er mich mitten in der Nacht. ‹Wer ist Johnny?›, schrie er. ‹Deine Träume verraten dich. Du stöhnst im Schlaf.› Dieser andauernde Psychoterror war ein einziger Albtraum. Eines Tages konnte ich nicht mehr. Ich war am Ende meiner Kräfte. Arian riet mir, Walter zu verlassen und zu mir selbst zu finden. In seiner unendlichen Grösse und Selbstlosigkeit bot er mir seine Wohnung an. Und jetzt ist er tot … von Walter ermordet …»
Die letzten Worte gingen im Schluchzen unter.
«Sollen wir Sie zu einer Freundin bringen? Sie müssen uns nur sagen, zu wem.»
«Ich … ich möchte hier bleiben. Einfach nur schlafen.»
«Wo wohnt Ihr Mann, Susanne?»
«An der Engelgasse. Bitte, bleiben Sie noch einen Moment, bis ich schlafe.»
»Selbstverständlich. Und ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Tisch. Sie können mich jederzeit anrufen.»
Ferrari sass im Wohnzimmer und wartete. Eine kleine Ewigkeit, wie ihm schien. Endlich trat Nadine aus dem Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
«Wie geht es ihr?»
«Sie ist eingeschlafen.»
«Es tut mir leid, dass ich dein Date versaut habe. Aber ich bin mit der Frau wirklich nicht klargekommen.»
«Schon vergessen. Gehen wir?»
«Ich kann mir gut vorstellen, wohin. Sollten wir das nicht unseren Kollegen überlassen?»
«Willst du kneifen? Kommt nicht in die Tüte. Ich kann natürlich Stephan anrufen oder Mike und um Verstärkung bitten. Soll ich?»
«Den wahnsinnigen Mike? Lieber nicht. Wo wohnt ihr Mann?»
«In der Engelgasse?»
«Wo ist denn das?»
«Keine Ahnung. Du bist doch der Urbasler. Mein GPS wird uns hinführen.»
Nadine steuerte ihren Porsche über die Wettsteinbrücke zum Aeschenplatz, fuhr durch die St. Alban-Anlage und bog in die Engelgasse. Wenn das kein Zufall war. Der Teufel wohnte in der Engelgasse!
«Du kennst dich langsam in Basel aus. Ich wäre nicht anders gefahren.»
«Danke für die Blumen. Ich lebe ja auch schon eine Weile hier und auf meinem Freund hier», sie strich über das GPS, «ist im Notfall immer Verlass.»
Wie die Zeit vergeht. Ihr erster gemeinsamer Fall, eine verzwickte Geschichte, lag gut vier Jahre zurück. Sinnigerweise hatten sie es damals auch mit der Medienbranche zu tun.
«Endstation!»
Ferrari kroch aus dem Wagen.
«Ein wenig Sport würde dir guttun. Gerade im Alter sollte man in Bewegung bleiben. Wer rastet, der rostet. Versuchs doch mal. Du wirst sehen, dann hüpfst du förmlich aus meinem schnellen Flitzer», stichelte Nadine.
Ferrari hüllte sich in Schweigen und suchte konzentriert das Namensschild von Walter Im Obersteg.
«Da haben wir ihn ja. Bist du soweit? Und Nadine, reiss dich bitte zusammen. Es bringt nichts, wenn du auf ihn losgehst. Abgemacht?»
«Soll ich im Auto warten, damit ihr ein Gespräch unter Männern führen könnt?»
«So war es nicht gemeint», murrte der Kommissär. «Du weisst schon, was ich damit sagen will.»
Nadine hatte bereits geläutet. Über die Gegensprechanlage fragte jemand ziemlich barsch, was los sei. Nadine kam im gleichen Ton zur Sache.
«Polizei! Wir wollen mit Ihnen sprechen.»
Ferrari hatte sich Walter Im Obersteg ganz anders vorgestellt. Ein kleiner, korpulenter Mann um die sechzig öffnete ihnen die Wohnungstür. Nadine hielt ihm ihren Ausweis vors Gesicht.
«Sie können sich vorstellen, weshalb wir hier sind?»
Im Obersteg nickte und trat zur Seite.
«Kommen Sie rein, wenns denn sein muss. Ich will nicht, dass die Nachbarn alles mitbekommen.»
Die Wohnung war ordentlich aufgeräumt. Auf dem Weg ins Wohnzimmer konnte Ferrari einen kurzen Blick ins Arbeitszimmer werfen. Neben dem Tisch mit dem Computer stand eine Staffelei, anscheinend zeichnete oder malte Im Obersteg.
«Sie kommen wegen meiner Alten.»
«Ihre Frau fürchtet sich vor
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