Das Auge des Sehers (German Edition)
Rolle». Ferrari klappte das Taschenbuch zu. Mir liegt der Hellseher mit seiner besonderen Gabe, Übernatürliches, eben Dinge jenseits von Raum und Zeit, wahrnehmen zu können, irgendwie näher, weil ich selbst viele Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffe. Man könnte auch von einer inneren Stimme, von Eingebung oder von Intuition sprechen. Der Wahrsager hingegen verwendet verschiedene Methoden, nimmt unter anderem die Astrologie zu Hilfe. Ein kräftiges Klopfen riss Ferrari aus seinen Gedanken.
«Francesco, hast du kurz Zeit? Ich habe das Ergebnis des Stimmenvergleichs. Es ist negativ.»
«Danke, Noldi. Das war zu erwarten», Ferrari strich Im Obersteg von seiner Liste. «Und, wie wars gestern Abend?»
«Nichts Besonderes, Pikett halt. Und bei dir?»
«Nadine und ich waren noch im Einsatz.»
«Mit Nadine im Einsatz …», Noldi geriet ins Schwärmen. «Du bist ein Glückspilz, Francesco. Ich beneide dich echt. Tja, die Welt ist ungerecht, was wieder einmal bewiesen wäre. Ist natürlich nicht persönlich gemeint. Du bist ein anständiger Kerl, Francesco. So, genug gequasselt, ich habe noch ein IT-Problem zu lösen. Ciao amigo.» Und weg war er.
Noldi schied definitiv aus dem Kreis der möglichen Datepartner aus. Wer war denn dieser geheimnisvolle Freund, mit dem sich Nadine gestern Abend herumgetrieben hatte? Ihr Vater, Nationalrat Kupfer, wusste auch keinen Rat. Er würde seine Tochter anfangs nächster Woche treffen. Aber Ferrari bezweifelte, dass er bei dieser Gelegenheit etwas herausfinden würde.
«Was wollte Noldi?»
«Er brachte nur die Ergebnisse des Stimmenvergleichs. Walter Im Obersteg ist nicht der anonyme Anrufer. Weshalb bist du so wütend?»
«Der schleicht mir ein bisschen zu viel hier herum.»
«Er macht nur seine Arbeit.»
«Wie mans nimmt. Früher ist er nicht so oft aus seinem Verliess aufgetaucht.»
«Er steht auf dich. Das sieht doch ein Blinder und …» Ferrari biss sich auf die Unterlippe.
«Und?», klang es ziemlich gefährlich.
«Ach, nichts.»
«Raus damit!»
«Und schliesslich hast du mit ihm geschlafen. Was erwartest du denn?»
«Aha! So läuft der Hase. Nur, weil wir ab und zu Sex haben, glaubt der Herr, einen Anspruch auf mich zu haben. Typisch Mann und so was von spiessig.»
«Ja, aber man schläft …»
«Ich sehe schon, das einundzwanzigste Jahrhundert hat dich noch nicht erreicht. Gut so. Träum weiter von der ewigen Liebe und dem ganzen Mist, aber bitte verschon mich mit deiner kitschigen Romantik und deinen ewig gestrigen Moralvorstellungen. Du und mein Vater, ihr seid beide genau gleich. Ihr hockt wie Spinnen im Netz und wartet auf den passenden Moment, um mich auszuquetschen. Wann endlich begreift ihr, dass ich mein eigenes Leben führe und niemandem Rechenschaft schulde?»
«Störe ich?»
«Überhaupt nicht! Ganz im Gegenteil, Sie fehlen mir gerade noch. Sie wollen sicher auch wissen, mit wem ich meine Nächte verbringe.»
«Mit jemandem aus dem Kommissariat?»
«Mit … ach, ihr könnt mich mal!»
«Habe ich etwas Falsches gesagt?», wandte sich Staatsanwalt Borer an Ferrari.
«Sie ist ein wenig empfindlich, was ihr Privatleben angeht.»
«Das macht sie mir sympathischer. Ich kann es auch nicht leiden, wenn Leute in meiner Privatsphäre rumschnüffeln. Wehret den Anfängen, sage ich da nur.»
«Was schauen Sie mich dabei so an?»
«Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie … aber lassen wir das.»
«Wieso sind Sie eigentlich hier? Es ist Samstag. Das Wochenende ist Ihnen doch sonst heilig.»
«Nur nicht so sarkastisch. Ich muss in Ruhe einen Fall vorbereiten. Am Montag gehts los.»
«Der weisse Engel?»
«Ich kann es nicht ausstehen, wie ihr Kommissäre die Fälle tituliert. Ja, die Krankenpflegerin, die zwei Patienten ermordet hat … Ah, ja, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, unten wartet Yvo Liechti auf Sie. Soll ich ihn raufholen?»
«Man soll ihn raufschicken.»
«Lassen Sie nur, Ferrari. Ich hole ihn.»
So ein Schleimer! Um berühmte Leute kümmert sich der Herr Staatsanwalt höchstpersönlich.
«Hallo, Yvo.»
«Ciao, Francesco. Ich war in der Nähe und dachte, ich schau kurz bei dir rein.»
Staatsanwalt Borer machte keinerlei Anstalten zu gehen.
«Du kennst Staatsanwalt Borer bereits?»
«Er war zufällig unten am Empfang und hat mich freundlicherweise zu dir geführt.»
«Sie kennen sich schon länger?», in Borers Stimme lag Erstaunen.
«Francesco und ich sind Schulfreunde. Wir teilten immer alles, nur die Frauen
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