Das Auge von Tibet
Wagen zurück und ließ dabei die Fremden nicht aus den Augen. Shan zog Lokesh zur Beifahrertür. Wenige Sekunden später saßen sie auf ihren Plätzen und fuhren davon.
Eine Viertelstunde lang folgten sie den Serpentinen über einen hohen Gebirgskamm und hielten unmittelbar hinter der Gratlinie, um Gendun aus seinem Faß zu helfen. Als Lokesh ausstieg, berührte Jowa Shans Arm. »Ich weiß nicht, wer das war«, sagte er. »Zuerst dachte ich, es seien Soldaten.«
Shan begriff, daß Jowa ihn um eine Erklärung bat. »Wir sind hier nicht weit von der indischen Grenze und der Straße nach Pakistan entfernt. Das waren Schmuggler. Vielleicht haben sie auf eine Lieferung gewartet.« Jowa zog die Landkarte hervor und stieg ebenfalls aus, um sie im Schein des Standlichts zu konsultieren. Shan wandte den Kopf und warf einen Blick durch die Heckscheibe. Auf der Ladefläche war niemand zu sehen. Er schaute in den Außenspiegel. Dort entdeckte er Lokesh, der mitten im Mondlicht allein auf dem Boden saß. Shan sprang heraus und lief zum hinteren Ende des Fahrzeugs.
Lokesh hielt seine Gebetskette an die Brust gepreßt und zählte hastig die Perlen ab. Shan stieg auf die Ladefläche. Die beiden Fässer waren leer. Gendun war verschwunden.
Mit geballten Fäusten verharrte Shan neben dem Faß, in dem sie Gendun versteckt hatten. An einem Brett über dem Faß hing ein kleines weißes Stück Stoff. Eine khata , ein Gebetsschal. Shan band ihn los und betrachtete ihn verwirrt.
»Wo ist Gendun?« rief er voll Sorge, lief zu Lokesh und packte dessen Schulter.
Lokesh blickte zum Himmel empor und musterte die Sterne, als könnten sie ihm Genduns Aufenthaltsort verraten. »Er ist nicht mehr da«, stellte er mit verzagter Stimme fest.
Shan rannte ein Stück den Weg entlang und rief dabei Genduns Namen. Seine Hand verkrampfte sich um die khata . Der Lärm scheuchte einen Vogel von seinem Schlafplatz auf und ließ ihn quer über das Antlitz des Mondes fliegen. Shan drehte sich um und sah, daß inzwischen Jowa auf der Ladefläche stand und die leeren Fässer anstarrte. Er lief zurück und ging neben Lokesh in die Hocke. »Wo ist Rinpoche?« wiederholte er verzweifelt. »Haben diese Männer ihn gefangengenommen?«
»Lokesh, versteh doch...«:, rief Jowa hinter Shan. »Er ist unser...«: Seine Stimme erstarb, und sein Blick richtete sich auf den dunklen Horizont. Der Wind schien zuzunehmen. Es war ein kalter Wind, und er roch nach Schnee.
»Vielleicht haben wir ihn verloren«, sagte Shan mit brüchiger Stimme. »Er könnte auf der steilen Straße vom Wagen gefallen sein.«
»Man hat ihn bestimmt entführt«, erklärte Jowa. »Das waren diese Mistkerle in dem roten Lastwagen. Und wir sind einfach weggefahren.«
»Manchmal«, sagte Lokesh mit einem langgezogenen Seufzen, »wird ein Lama einfach nur fortgerufen.« Seine Stimme klang ruhig, aber sein Blick war freudlos. Er sah den Gebetsschal in Shans Hand, dessen Ende im Wind flatterte, und griff danach. Shan ließ los. Der alte Tibeter legte sich die khata auf den Oberschenkel und strich zaghaft darüber, während er zugleich dankbar lächelte. Er schien sich vergewissern zu wollen, daß ihr Reisegefährte tatsächlich der Gendun aus Fleisch und Blut gewesen war. Shan ließ sich neben ihm zu Boden sinken, doch das Herz wurde ihm so schwer, daß er kein Gebet über die Lippen bekam.
Gendun war vermutlich bei den Fremden in dem roten Lastwagen, die wie Angehörige der Öffentlichen Sicherheit gewirkt hatten und einen Mann wie den Lama innerhalb weniger Stunden mit Haut und Haaren verschlingen konnten, falls ihnen der Sinn danach stand. Bestenfalls irrte Gendun nun allein durch die Bergwildnis. Ausgerechnet Gendun, der bis vor einer Woche kaum etwas von der Außenwelt mitbekommen hatte. Mit plötzlichem Schmerz erinnerte Shan sich an ihr erstes Treffen in der versteckten Einsiedelei. Gendun hatte sich über die Uhr an Shans Handgelenk gewundert. Als Shan sie ihm reichte, hatte Gendun daran gelauscht und den Kopf geschüttelt, nicht nur wegen des technischen Wunderwerks, sondern auch als Reaktion auf die Vorstellung, daß jemand glauben konnte, Bedarf für einen solchen Gegenstand zu haben. »Ach, ihr Chinesen«, hatte er lächelnd gesagt.
Jowa wendete den Wagen und fuhr langsam wieder zurück, während Shan auf dem Trittbrett stand, sich am Außenspiegel festhielt und immer wieder Genduns Namen rief. Jowa schaltete die Scheinwerfer ein. Nach ungefähr einer Meile hielt er an und stellte den
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