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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Motor aus. Schweigend saß er am Lenkrad, umklammerte es fest und verzog gequält das Gesicht. Shan sah ihn kurz an. Was war der Grund für diesen Schmerz? Litt Jowa darunter, daß er als Krieger keinen Feind fand, oder mußte er an seine eigenen Worte denken, daß nämlich alles keinen Sinn mehr hatte, wenn die Lamas nicht überlebten?
    »Was ist, wenn es auf diese Weise endet?« fragte Jowa. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. »Der letzte der Alten verschwindet einfach. Und die Welt taumelt weiter voran, ein Körper ohne Seele.« Er sah zu einer hohen Klippe, die sich vor dem Himmel abzeichnete, ein riesiger schwarzer Umriß in einer Landschaft voller Schatten. »Was ist, wenn er der Letzte war?« fragte er die Berge, so leise, daß Shan ihn fast nicht hören konnte.
    »Es hieß, ein Lama würde vermißt«, erinnerte Shan ihn. »Lau sei getötet worden, und ein Lama würde vermißt.«
    Jowa nickte. »Demnach wird der Hunger deiner Dämonin immer größer«, sagte er mit hohler Stimme. »Bislang drei Morde und zwei verschwundene Lamas.«
    Langsam fuhren sie zu Lokesh zurück, der noch immer am Wegrand saß und betete. Jowa stieg aus, nahm im Mondschein neben ihm Platz und entzündete ein Weihrauchstäbchen, während Shan auf die Ladefläche stieg.
    »Was hast du vor?« rief der purba , als Shan mit ckr alten Leinentasche wieder zum Vorschein kam, die seine wenigen Habseligkeiten enthielt.
    »Ich kehre um«, sagte Shan. »Ich werde erst dann weiterreisen, wenn ich weiß, daß Gendun sich in Sicherheit befindet.«
    »Das kannst du nicht«, wandte Jowa ein.
    »Ich muß.« Shan hockte sich neben Lokesh, der ihn mit einem bekümmerten Blick bedachte.
    »Das kannst du nicht«, wiederholte Jowa. »Du wurdest geschickt. Gendun hat gesagt, du wirst im Norden gebraucht.«
    »Diese Frau und die Jungen sind tot«, sagte Shan. »Sie sind tot und Gendun nicht. Noch nicht.«
    Lokesh, dessen Augen nun unverwandt auf die glühende Spitze des Weihrauchstäbchens gerichtet waren, schüttelte langsam den Kopf. »Es war diesen bösen Männern bestimmt, heute nacht auf der Straße zu sein. Und es war Gendun bestimmt, heute nacht zu verschwinden.«
    »Vielleicht ist das ja auch meine Bestimmung«, gab Shan zu bedenken.
    »Nein«, sagte Lokesh. »Deine Bestimmung ist es, die Reise fortzusetzen.« Die Gewißheit in seiner Stimme ließ nicht den leisesten Zweifel.
    »Lokesh, mein Freund«, sagte Shan. Er kniete sich hin und legte dem Alten eine Hand auf die Schulter. »Ich bin dermaßen oft zerrissen und wieder zusammengenäht worden, daß ich mir wie ein zerlumpter alter Flickenteppich vorkomme. In mir paßt so vieles noch immer nicht zusammen, daß ich mich bisweilen regelrecht wundere, wie meine Seele dies jemals heil überstehen soll.« Er registrierte die Qual in seiner Stimme, doch er konnte nichts dagegen tun.
    »Und du glaubst, Gendun wird die Teile zusammenfügen, Xiao Shan?« fragte Lokesh.
    »Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß unter allen Dingen, die ich auf dieser Welt kennengelernt habe, die Lamas das Beste darstellen.«
    Shan stand auf, nahm die Riemen der Leinentasche, die noch zu seinen Füßen stand, und ließ den Blick über die Berge schweifen, deren Schneekappen im Mondlicht schimmerten. Der Wind blies stetig und kalt und erinnerte ihn daran, daß Gendun zum Schutz vor den Elementen nur sein Gewand und ein dünnes Stück Leinen besaß. In der Ferne heulte ein Tier.
    »Wir werden hier auf Xiao Shan warten«, sagte Lokesh zu Jowa, als wäre Shan schon aufgebrochen, und reckte das Weihrauchstäbchen wie eine Fackel in die Höhe. »Xiao Shan wird zurückkehren. Irgendwo auf einem hohen Berg wird er begreifen, daß nicht wir für Gendun verantwortlich sind, sondern Gendun für uns.«
    Shan bemerkte, daß er die Hand um das gau geschlossen hatte, das kleine Kästchen, das sein Gebet und seine Feder enthielt. Gendun hatte etwas gespürt, als er Shan am letzten Nachmittag die Feder gab und betonte, daß ihre Reise unerwartete Wendungen nehmen könnte. Langsam, beinahe unbewußt, ließ Shan sich neben seinen beiden Gefährten nieder.
    Sie beteten, bis das Weihrauchstäbchen abgebrannt war. Dann stiegen sie wieder in den Wagen. Shan stellte sich auf die Ladefläche, packte eine der Metallstreben und starrte dem schwarzen Gebirge entgegen, während sie weiter in die Nacht vordrangen.
    Er schlief unruhig und schreckte oft aus Alpträumen hoch, in denen er Gendun in Gefahr wähnte, zerschmettert am Fuß einer

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