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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Steilwand liegen sah oder in den Händen der Öffentlichen Sicherheit erblickte, deren Schergen ihn mit elektrischen Viehtreibern mißhandelten. Auch als der Lastwagen unvermittelt eine weite Kurve beschrieb und auf einen holprigen Schotterweg einbog, wachte Shan kurz auf, döste dann aber wieder ein, während am östlichen Himmel bereits die ersten grauen Vorboten der Dämmerung zu sehen waren.
    Schließlich fiel er doch noch in einen tiefen Schlummer, aus dem ihn weder das Morgenlicht noch der Halt des Lastwagens erwachen ließen. Erst als direkt neben dem Fahrzeug plötzlich der gellende Schrei eines großen Tiers erklang, zuckte Shan zusammen und stieß sich den Kopf an einem der Fässer.
    »Ende der Straße«, rief Jowa hinter dem Lastwagen, wo er mit Shans Leinentasche stand. Shan wankte zu der offenen Heckklappe, hielt sich den schmerzenden Kopf und stieß beim Hinunterklettern beinahe mit Lokesh zusammen. Der alte Tibeter stand dicht an die Rückwand des Fahrzeugs gepreßt und spähte vorsichtig um die Ecke. Er grüßte Shan mit einem furchtsamen Nicken und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Beobachtung zu.
    Shan betastete seine Stirn und stellte beiläufig fest, daß an seinen Fingern ein wenig Blut klebte. Im trüben Licht der Dämmerung konnte er erkennen, daß sie sich anscheinend in einem Gewirr aus riesigen Felsblöcken und Gesteinsformationen befanden. Zwischen den Felsen lag stellenweise Schnee. Nein, kein Schnee, verbesserte er sich, nachdem er einen der hellen Flecken etwas länger betrachtet hatte. Das war Sand.
    Er ging um den Wagen herum und erstarrte. Keine drei Meter vor ihm stand ein großes braunes Geschöpf mit zwei großen Höckern auf dem Rücken und einem Ledergeschirr am Kopf. Ein Kamel. Lokesh wagte sich ein Stück vor, hielt sich jedoch weiterhin hinter Shan und sah ihm über die Schulter. Das Kamel schnaubte verächtlich, stieß noch einen lauten Schrei aus und schüttelte sich, was ein unerwartetes Klingeln hervorrief. An den Enden des Geschirrs waren kleine Glocken befestigt.
    Lokesh brach in lautes, keuchendes Gelächter aus. Shan drehte sich um und sah seinen Freund erstaunt an. Das Lachen konnte bedeuten, daß Lokesh verängstigt, verwirrt oder gar -was selten vorkam - hoch erfreut war.
    Aus dem Schatten hinter ihnen ertönte ein knapper herrischer Ruf. Das Kamel schien die Stimme oder das Wort zu erkennen und trat mit erwartungsvollem Blick zwei Schritte vor. Shan sah sich nach dem Urheber der Stimme um. Er konnte hinter den Felsblöcken nun deutlicher eine mit Schotter gefüllte Rinne ausmachen, die sich leicht abschüssig zwischen den Gesteinsformationen und hin zu einer Reihe kleinerer Grate und langgezogener niedriger Berge erstreckte, die mit Geröll und Flecken graugrüner Vegetation bedeckt waren.
    »Ai yi!« rief Lokesh in lautem Flüsterton und näherte sich Shan, als wolle er bei ihm Schutz suchen. Die kleineren Felsen erwachten zum Leben. Im Licht der aufgehenden Sonne hatten mehrere der dunklen Umrisse an Konturen gewonnen. Sie waren aus Fleisch, nicht aus Stein. Stille Gestalten, die sich unter graubraunen Umhängen zusammengekauert hatten. Langsam standen sie nun auf, als würde die Wärme der Sonne sie aus dem Winterschlaf erwecken. Doch als Shan ihre Gesichter sah, wurde ihm klar, daß die Fremden nicht träge, sondern nur vorsichtig waren.
    »Jowa!« rief einer von ihnen, richtete sich vollends auf und ließ den Umhang fallen. Er war Tibeter, schien einige Jahre jünger als Jowa zu sein und trug am Ärmel seines Gewands einen kastanienbraunen Stoffstreifen. Dieses Symbol des Widerstands wurde zumeist von Mönchen getragen, deren Lizenz der Behördenwillkür zum Opfer gefallen war. Es diente als Hinweis auf die Farbe jener Robe, deren Träger von Rechts wegen mit einer Genehmigung des Büros für Religiöse Angelegenheiten ausgestattet sein mußten. Der Tibeter schaute von Jowa zurück zu einem hochgewachsenen Mann mit Schaffellweste, dessen dichtes schwarzes Haar grau gesprenkelt war und teilweise von einer randlosen braunen Kappe bedeckt wurde. Im Schatten neben ihm stand eine dritte Gestalt, ein hagerer, finster blickender Mann, der blaue Jeans und Schuhe aus Leinen trug. Seine Nase war schief, als sei sie ihm einst gebrochen worden.
    Der junge Tibeter sprang vor und umarmte Jowa, der sich sogleich umdrehte und in Richtung der Berggipfel wies, die sie letzte Nacht hinter sich gelassen hatten. Daraufhin zog der junge Mann eine primitive Landkarte aus

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