Das Auge von Tibet
berichten, was Peking hier in Xinjiang macht.«
Shan erzählte Marco von dem Gold-Panda, den Lau in ihrer Vexierschachtel versteckt hatte. »Geld für ein Boot«, sagte er. »Für Laus Abreise. Lau und noch jemand. Vielleicht Bajys und Khitai.«
Er sah Marco an, der stirnrunzelnd den Mond betrachtete. »Was haben Sie vorhin gesagt? Ich kann nicht aufhören? So wie Sie nie aufhören, manche Dinge so lange wie möglich geheimzuhalten? Sie ist zu Ihnen nach Karatschuk gekommen, nicht wahr? Sie hatte Angst. Sie wußte von Jaklis bevorstehender Abreise. Und in jener Nacht hat sie darum gebeten, zur gleichen Zeit fliehen zu dürfen, weil ihr auf einmal bewußt wurde, in welcher Gefahr sie sich befand. Aber der Mörder war ihr dorthin gefolgt.«
Marco erwiderte nichts darauf. Er schien stumm den Mond nach einer Antwort zu befragen.
Shan zog das Bronzemedaillon aus der Tasche. »Das hier lag bei dem Goldstück. Die Hälfte eines Paars. Ich bin Bao zuvorgekommen und habe es eingesteckt.« Das Licht war zu schwach, um Einzelheiten erkennen zu können, also drückte er Marco das Medaillon in die Hand.
»O Gott«, murmelte der eluosi und seufzte laut. »Es ist nicht gut, wenn so viele Leute über Geheimnisse reden. Das ist die Fahrkarte. Dieser alte Tibeter mit den Booten kennt außer mir niemanden persönlich. Und ich bleibe hier. Er hat die jeweils andere Hälfte des Paars. Sie sind einzigartig und kommen ansonsten nur in Museen vor. Bis Deacon diese Exemplare im Sandberg entdeckt hat. Also haben wir dem Tibeter durch die Maos die fehlenden Hälften aushändigen lassen. Die Reisenden müssen die passenden Gegenstücke vorzeigen und den Panda bezahlen. Auf diese Weise kann er nicht hintergangen werden.«
Die Fahrkarte. Lau hatte einen Fahrschein in die Freiheit und in ein neues Leben besessen. Aufbewahrt hatte sie das alles in ihrem Büro, bis sie nach Karatschuk ritt und dort ermordet wurde. »Wohin wollte Lau? Nach Amerika?«
»Das weiß ich nicht. Sie war eine tibetische Nonne, haben Sie gesagt. Vielleicht nach Dharamsala. Vom anderen Ende des Sees sind es nur rund dreihundert Kilometer bis dorthin.« Das am Südrand des Himalaja gelegene Dharamsala war die Heimat des Dalai Lama, die Hauptstadt des freien Tibet.
Shan fand Lokesh im Eingangsraum vor. Der alte Tibeter saß vor dem Samowar am Boden und hatte bereits ihre Decken auf dem Teppich entrollt. Er ließ seine Gebetskette durch die Finger gleiten und starrte auf einen undefinierbaren Gegenstand, der unter der Filzdecke vor ihm lag. Shan sah ihm eine Weile verwirrt zu und nahm dann neben seinem Freund Platz. Schnell wurde ihm klar, daß Lokesh kein gewöhnliches Mantra rezitierte, sondern das Gebet eines Pilgers, in dem dieser die Schutzgötter um Beistand anrief. Shan hob die Decke an, ganz langsam, damit Lokesh ausreichend Zeit haben würde, ihn gegebenenfalls davon abzuhalten. Darunter lagen zwei Holzklötze, zwei Blöcke aus geschnitztem Holz mit rissigen, vertrockneten Lederriemen, die in lockeren Schlaufen daran befestigt waren. Shan erkannte sie sofort.
»Du hast sie mitgenommen«, flüsterte er überrascht. »Es sind seine.«
»Ja«, sagte Lokesh fröhlich. »Ich werde sie zum Kailas bringen, mit ihnen die Pilgerreise rund um den heiligen Berg vollenden und sie dann dort zurücklassen, wie er es versprochen hat.«
Shan lächelte über Lokeshs Scherz und bemerkte dann die seltsame Erregung in den Augen des Tibeters. »Unmöglich!« protestierte er, als ihm aufging, daß es sich keineswegs um einen Scherz handelte. »Sogar für einen jungen Mann wäre es sehr schwierig. Der Winter steht bevor. Den Berg auf Händen und Knien zu umrunden könnte viele Tage in Schnee und Wind dauern.« Vielleicht Wochen, dachte er. Die Pilger benötigten manchmal schon mehrere Tage, um die fast fünfzig Kilometer lange Runde normal zu Fuß zurückzulegen.
»Ich habe es ihm versprochen«, entgegnete Lokesh heiter und gelassen.
Shan wollte etwas einwenden, aber der Protest erstarb auf seinen Lippen. Lokesh hatte dem toten Pilger, einer tausend Jahre alten Mumie, ein Versprechen gegeben. Doch als Shans Hand sich um sein gau mit der Feder legte, begriff er, daß auch er selbst durch eine Art Versprechen an den Toten gebunden war, nämlich das Gelöbnis, die Tugend weiterzutragen. Er verstummte und lauschte Lokesh, der das Gebet fortsetzte.
Nach einigen Minuten ging er zum Küchentisch und breitete im Schein zweier Kerzen Khitais ärmliche Habseligkeiten vor sich aus. Die
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