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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sich nicht täuschen. Es gab auch weiterhin Schlaglöcher in den Wegen, in denen man sich den Knöchel brechen konnte, und Ritzen in den Wänden, in denen Ratten lauerten.
    Als Shan das Restaurant erreichte, stand dahinter ein großer Lastwagen. Gendun und Lokesh lagen schlafend im vorderen Gastraum unter zwei zusammengeschobenen Tischen, als rechneten die Maos mit einem Erdbeben. Jowa verharrte im Lotussitz neben ihnen und beobachtete sie. Als die stämmige Frau Shan einen Becher Tee und eine Schale Nudeln reichte, sprang der Motor des Lastwagens an.
    »Reislager«, sagte sie als Antwort auf seinen fragenden Blick. Er rannte zur Tür hinaus und kletterte so hastig auf die Ladefläche, daß er erst dort beim Hinsetzen bemerkte, daß er noch immer den Becher Tee in der Hand hielt.
    Fat Mao, der im Schatten hinter dem Führerhaus saß, war nicht erfreut, ihn zu sehen. Nur ein kurzer Abstecher, um die Bestellung für die Nahrungsmittellieferung der nächsten Woche aufzunehmen, erklärte der Uigure, aber Shan wußte es besser. Sie fuhren wegen des Roten Steins, den man am Nachmittag des nächsten Tages auflösen würde. Akzu und Fat Mao hatten einen Plan ersonnen, über den sie striktes Stillschweigen bewahrten. Doch Shan war das gleichgültig. Er kam wegen des Wasserhüters mit. Ansonsten blieb nichts weiter zu tun, als den Tagesanbruch und damit das Treffen am Steinsee abzuwarten.
    Es drohte die abschließende Konfrontation, denn die Mörder würden kommen, um sich ihre letzte Prämie zu verdienen. Und Shan mußte vor den Kriechern dasein, um Micah möglichst schnell in Sicherheit zu bringen, falls seine Hirtenfamilie unterwegs den Maos auswich, die versuchen würden, den Jungen bereits auf den Pfaden zum Steinsee abzufangen.
    Das Verwaltungsgebäude im Lager Volksruhm wirkte menschenleer. Auch das Wachhäuschen war verlassen und das Haupttor mit Kette und Vorhängeschloß versperrt, aber Mao der Ochse stieg vom Fahrersitz und öffnete es flink mit einem Schlüssel. Sie hielten vor dem Lagerhaus, und eine Frau folgte dem großen Kasachen von der vorderen Bank nach draußen -Mao die Schwalbe, gekleidet in ein förmlich wirkendes Kostüm. Sie trug einen großen Umschlag in der Hand und schritt in selbstbewußter Haltung direkt auf das Bürogebäude zu.
    Shan ging zum inneren Zaun und betrachtete den besonderen Zellenblock der Kriecher auf dem Häftlingsgelände. Er hatte weder einen Plan noch eine Idee - oder auch nur die Gewißheit, ob der Lama sich überhaupt in jenem Gebäude befand. Selbst wenn es Mao der Schwalbe gelingen sollte, das dem Wasserhüter zugewiesene Quartier festzustellen, konnten die Maos nicht riskieren, den inneren Bereich zu betreten, denn dort herrschten verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. Shan beugte sich zu ein paar trockenen Astern hinab, denen es gelungen war, im Sandboden am Fuß des Zauns zu überleben. Er pflückte eine der Blumen und band sie an der den Zellen nächstgelegenen Stelle am Draht fest. Womöglich war er nur hergekommen, um sich zu verabschieden, dachte er traurig. Sobald Bao oder Rongqi herausfanden, daß der alte Tibeter ein Lama war, hatte der Wasserhüter nicht mehr lange zu leben. Shan schaute zurück zu dem Verwaltungskomplex, wandte sich dann langsam und widerstrebend dem kleinen Schuppen zu, in dem er Nikki gefunden hatte, und sah schließlich zu dem Heizungsgebäude.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, machte er sich auf den Weg und fand sich wenig später unter dem Vordach wieder. Aus etwa sieben Metern Entfernung konnte er die Hitze des Kessels bereits deutlich spüren. Er stand einfach da, und das Abbild des temperamentvollen jungen Blondschopfs neben der Luke stieg vor seinem inneren Auge auf. Nicht viel älter als sein eigener Sohn. Er ließ das Gebäude hinter sich und blieb am Rand des Friedhofs stehen. Im trüben Schein des wolkenverhangenen Mondes wirkten die Gräberreihen endlos. Mit kleinen, unsicheren Schritten brach er in Richtung des anderen Endes auf, wo sich die frischesten Erdhügel befunden hatten.
    Dann sah er das Tier. Ein langer, dunkler Koloß, der zwischen den Gräbern umherschlich, als folge er einer Witterung. Shan hielt nach einem Spaten oder einem Stock Ausschau, nach irgend etwas, das er als Waffe benutzen könnte. Neben einem der frisch ausgehobenen Gräber hielt die Kreatur inne. Voll jäher Angst überlegte Shan, was er wohl tun sollte, falls dieses Wesen anfangen würde, die Leichen freizuscharren. Aasfresser bevorzugten totes Fleisch.

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