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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Zögernd trat er näher. Das Tier schenkte ihm keine Beachtung. Es grub mit ausholenden Bewegungen und nahezu beiläufig seine Klauen in die Erde und strahlte dabei eine gewaltige, unbekümmerte Kraft aus.
    Kurz darauf lehnte es sich auf seine Hinterläufe zurück. Als der Mond hinter einer Wolke hervorkam, stieß Shan unwillkürlich einen halb erstickten Schrei aus. Das Tier war Marco Myagov.
    Lautlos wartete Shan lange Zeit ab, bis er sich wieder einen Schritt vorwagte. Marco erstarrte und schien sich auf ihn stürzen zu wollen, aber dann erkannte er ihn. Shan sprach kein einziges Wort, sondern fing statt dessen an, selbst die Reihen abzuschreiten und die einzelnen Hügel zu mustern, während er sich ins Gedächtnis rief, wie der Friedhof bei seinem ersten Besuch ausgesehen hatte. Nach einigen Minuten blieb er vor drei frischen Gräbern stehen. »Hier«, sagte er. »Hier müßte es sein.«
    Marco schien sich nur mühsam erheben zu können. Er klopfte sich die Friedhofserde von den Händen und kam zu Shan.
    »Er ist.« Shan suchte nach den richtigen Worten. »Er ist in der Gesellschaft vieler guter Männer.« Ungeachtet ihres jämmerlichen Endes in einer vergessenen Einöde handelte es sich bei vielen der hier Bestatteten um Männer, die den Diktatoren getrotzt hatten und ihren Überzeugungen treu geblieben waren.
    Es war Marco nicht anzumerken, ob er Shan gehört hatte.
    »Ich dachte.«, setzte Shan vorsichtig an. »Ich habe das Feuer gesehen. Ich dachte, Sie wären ums Leben gekommen.« Was ist, wenn dies nicht Marco ist, dachte er auf einmal erschrocken, sondern nur ein schwaches Abbild des eluosi , ein Gespenst, das nach dem Verlust seiner Seele zurückgeblieben war?
    Aber dann antwortete der Mann ihm. »Sie hat gebrannt«, sagte Marco mit heiserer Stimme. »Mein Gott, wie sie gebrannt hat.«
    »Aber warum sind Sie.«
    »Ich muß noch etwas mit meinem Nikki besprechen.«
    »Und dann?« fragte Shan nach einem Moment.
    »Das habe ich Ihnen schon einmal erzählt. Ich jage Mistkerle. Das kommt häufiger vor.«
    Die Worte machten Shan irgendwie traurig. »Man braucht Sie. Die Amerikaner müssen es immer noch nach draußen schaffen. Sie befinden sich in großer Gefahr.«
    Marco sah ihn mit verwirrter Miene an, als habe er noch gar nicht daran gedacht.
    »Man wird Sie hier töten. Gegen die Soldaten haben Sie keine Chance.«
    Marco entgegnete nichts. Er setzte sich mitten zwischen zwei Gräber und klopfte dann neben sich auf den Boden, als wolle er Shan auffordern, sich zu ihm zu gesellen. Shan nahm am Ende des Hügels Platz.
    »Ich hätte keine Angst davor, hier bei Nikki zu bleiben«, sagte der eluosi beinahe fröhlich. »Ich habe nichts mehr, kein Heimatland, keine Familie, kein Zuhause.«
    »Aber was sollte Sophie ohne Sie anfangen?«
    Marco schaute hinaus zu einem Fleck in der Dunkelheit, im Schatten des Hügels neben dem Lager. Dann seufzte er tief und holte etwas aus der Tasche. Im Mondlicht konnte Shan es erkennen. Es war der russische Orden, den er in Marcos Zimmer gesehen hatte. Der Orden aus der Hand des Zaren.
    Der eluosi hob in der lockeren Erde am Kopfende des Grabes ein kleines Loch aus und verbarg den Orden darin. Anschließend sprach er lange auf russisch und blickte dabei erst auf das Grab, dann in den Himmel.
    Nachdem er geendet hatte, ließ er den Blick über das Gelände schweifen. Sein Gesicht nahm einen neuen, harten Ausdruck an, und seine Augen funkelten kriegerisch. Mit einemmal stand er auf und hielt im Laufschritt auf das Heizungsgebäude zu.
    Als Shan ihn einholte, stand er bereits neben dem offenen Heizkessel und schaufelte hastig Kohlen hinein. Er deutete auf die volle Schubkarre vor dem Gebäude, und Shan schob sie zu ihm. Wenig später war der Heizkessel mit Brennstoff gefüllt, so daß er fast überlief. Die Hitze wurde nahezu unerträglich, bis Marco die Luke schloß. Dann lief der eluosi zu der Werkbank und kehrte mit einem langen Nagel sowie einer Zange zurück. Er steckte den Nagel durch die Ösen, an denen die Luke des Heizkessels sich bei Nichtgebrauch durch ein Vorhängeschloß sichern ließ, und bog beide Enden des Splints um, so daß die Luke nicht mehr geöffnet werden konnte. Danach betrachtete er kurz die einfachen Bedienelemente der Anlage, schloß das Überdruckventil, stellte die Luftzufuhr auf den Maximalwert und zertrümmerte die Temperaturanzeige. Er wandte sich ab, hielt kurz inne, zog etwas aus der Tasche und legte es auf die Oberkante der Luke. Shan wußte, was es

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