Das Babylon-Virus
schwarz-rot-goldene Hoheitszeichen trug wie die Transall, mit der Rebecca und ihre Begleiter vor zwei Tagen nach Afghanistan geflogen waren!
Der CH-35 schaffte 240 Kilometer in der Stunde. Selbst mit der speziellen Umrüstung dieses Exemplars, die dem Hubschrauber erlaubte, zusätzliche Kraftstoffvorräte an Bord zu nehmen, hatten sie bereits zweimal nachtanken müssen. Vierzehn Stunden: Schneller war die Strecke von Süditalien nach Afghanistan nicht zu machen.
Viel Zeit für die Reiselektüre. Amadeo zwang seine Augen auf, richtete sie auf den Text, versuchte Görlitz’ Gefasel, das Wummern der Rotoren auszublenden. Versuchte seine eigenen Gedanken auszublenden, die sich wild im Kreis drehten. Görlitz - und damit Verholen - arbeitete für die Deutschen!
Genau wie Alyssa, die doch angeblich auf Amadeos Seite stand!
Und ihre Schwester, die Frau, die Amadeo liebte, war zusammen mit Alyssa unterwegs - in einem deutschen Militärkonvoi.
Amadeos Finger zitterten. Seinen Teil der Papyrusrolle hatte er auf seinem Aktenkoffer abgelegt. Verzweifelt versuchte er sich auf den Text zu konzentrieren, die winzigen
Zeichen in griechischer Sprache, die sich dunkel von der faserigen Oberfläche abhoben.
Schon die Hintergrundgeschichte, Kaiser Friedrichs Beipackzettel, hätte ihn unter anderen Umständen schlichtweg umgehauen. Friedrich, der ja für jede Art von Wissenschaft zu haben gewesen war, hatte in der alten Kaiserstadt Ravenna archäologische Grabungen in Auftrag gegeben - ein Vorgang, der der wissenschaftlichen Forschung sogar bekannt war. Doch kein Mensch ahnte bis heute, was er dort gefunden hatte: ein eigenhändiges Manuskript Alexanders der Großen.
Alexander der Große, König der Makedonen, der größte Eroberer der Geschichte, Herr über quasi die gesamte damals bekannte Welt, stand am Beginn der babylonischen Rätselüberlieferung.
Dem Beginn?
Es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen Alexanders Geschichte und allen anderen Versionen der Babylon-Erzählung, die Amadeo bisher in die Hände bekommen hatte.
Es gab keinen Code in diesem Text.
Alexander erzählte die Geschichte vom Turmbau zu Babel so klar und so deutlich, wie er nur konnte, berichtete vom göttlichen Zorn, von der Seuche, dem Heilmittel und dem Ort, an dem es verborgen worden war. Keine Sekunde ließ er einen Zweifel daran, dass er diese Geschichte für die Wahrheit hielt, für nichts als die Wahrheit. Kein Spielchen.
Die Wahrheit.
Von den Göttern sprach er dabei natürlich im Plural. Alexander der Große war Heide gewesen, aufgewachsen mit der Götterwelt der Griechen und der antiken Philosophie seines Lehrers Aristoteles. Welch eine Tradition, dachte Amadeo. Aristoteles, der selbst ein Schüler Platons gewesen
war, welcher seinerseits beim großen Sokrates in die Lehre gegangen war.
Die größten Geister ihrer Zeit. Sie waren die Ahnherrn des babylonischen Rätsels. Von Aristoteles hatte Alexander die Geschichte erfahren. Doch offenbar war das Geheimnis bis zu diesem Zeitpunkt niemals verschlüsselt worden; der gerade aktuelle Großgeist hatte lediglich ganz genau aufgepasst, an wen er es weitergab: an den größten Gelehrten der nächsten Generation.
Sokrates.
Platon.
Aristoteles.
Jedes Mal eine gute Wahl, dachte Amadeo.
Und Alexander der Große.
Amadeo biss sich auf die Lippen.
Da hatte einer ziemlich danebengegriffen.
Alexander hatte wenig anfangen können mit gelehrten Spitzfindigkeiten. Konnte ein solcher Mann sich damit zufriedengeben, ein geheimes Wissen zu hüten und es bei seinem Tode weiterzugeben?
Alexander war ein Mann des Schwertes, besessen davon, mit diesem Schwert bis an die Grenzen der bewohnten Welt vorzudringen. Warum? Bis heute blickte die Geschichtsschreibung kopfschüttelnd auf diesen Menschen, der alles, alles diesem einen Ziel untergeordnet hatte. Tausende, Zehntausende von Toten, nur um immer, immer weiter in den geheimnisvollen, fremdartigen Osten vorzustoßen, bis in jene Landschaft hinein, die damals als Baktrien bekannt gewesen war, heute aber einen Teil Afghanistans bildete. Und dort hatte er einen ganzen Winter zugebracht. Womit eigentlich? Das wussten die Quellen nicht zu sagen.
Doch Amadeo wusste es.
So exakt, wie Alexander die Route der Babylonier mit ihrem
Heilmittel beschrieb, konnte nur ein Mensch, der selbst vor Ort gewesen war, die Strecke schildern.
Was in den Texten Einsteins, Goethes, Händels, selbst bei Kaiser Friedrich noch unklar und verschwommen erschienen war: Hier stand
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