Das Babylon-Virus
die einem …«
»Ein Mann«, unterbrach sie ihn. »Mitte vierzig, weiße Haare, ungefähr bis zum Hals. Trägt wohl gerne einen Jeansanzug.«
Amadeo hatte mitten im Satz innegehalten. »Was?«, krächzte er.
»Er hat auf der Via Oddone auf dich gewartet«, erklärte sie. »An der Bushaltestelle, gestern den ganzen Tag über. Nur dass keine Busse fahren, weil die Gewerkschaft wieder mal im Streik ist.«
Amadeo starrte sie an.
»Du kennst den Mann?«, fragte sie.
Amadeo nickte, schüttelte den Kopf, nickte dann wieder. »Kennen …«, murmelte er. »Er saß in meinem Flieger heute Morgen. Wir haben uns am Flughafen noch über die Zeitung unterhalten, über das Gerokreuz.«
»Gerokreuz?«
»Er kannte es nicht … glaube ich.« Amadeo versuchte sich die Szene ins Gedächtnis zurückzurufen. War es derselbe Mann, den Rebecca beschrieb? Waren seine Haare tatsächlich weiß gewesen? Eher blond, soweit er sich erinnerte, aber da konnte er sich täuschen. Der Rest kam hin. »Kann das nicht ein Zufall sein?«, fragte er. »Es gibt viele langhaarige Männer.«
»San Francisco war voll davon.« Rebecca nickte. »So um 1970. Dieser Mann hat gestern auf dich gewartet, und als du dann deinen Spaziergang gemacht hast, ist er dir hinterher. Fabio und Alyssa haben ihn gesehen.«
»Der Junge sollte sich ein Mädchen in seinem Alter suchen«, murmelte Amadeo.
Sie hob eine Augenbraue. »Du bist in Ordnung?«, erkundigte sie sich.
Er nickte ruckartig, bekam aber keinen Ton heraus. Auf einen Schlag war seine Unruhe wieder da. Sein Spaziergang, nein, kein Spaziergang: eine panische Flucht durch das Viertel zwischen der Porta di San Paolo und den Thermen des Caracalla. Schritte, die ihm gefolgt waren, Schritte, die er
schließlich wütend dem Echo zugeschoben hatte - oder seiner überreizten Fantasie. Amadeo hatte die Erinnerung beiseitegedrängt, bis zu diesem Augenblick. Und nun erfuhr er, dass die Schritte kein Echo gewesen waren und keine Phantasmagorie, sondern Wirklichkeit.
»Aber das ergibt keinen Sinn«, flüsterte er. »Die KGB-Geschichte hat sich Fernwaldt nur eingebildet! Weder der Einsteintext noch der Goethetext sind für irgendeinen Menschen interessant, der sich nicht mit der Materie beschäftigt. Und wie soll sich jemand damit beschäftigen? Woher hätte irgendjemand wissen können, dass ich diesen Text überhaupt habe - Einsteins Text? Woher sollte irgendjemand wissen, dass dieser Text überhaupt existiert ?«
»Das ist eine gute Frage«, sagte sie leise. Ihr Blick ging nach draußen, durch die Windschutzscheibe. Amadeo hatte die Taschenlampe ausgeschaltet, das einzige Licht kam von der Beleuchtung des Armaturenbretts und der Straßenlaterne vor Helmbrechts Haus. Insekten umtanzten das gedämpfte Licht, der Kälte zum Trotz.
Sie grübelte. Sie hatte eine Theorie, Amadeo spürte es. Doch er wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, sie zu drängeln. Sie würde reden, sobald sie den Augenblick für gekommen hielt, und keine Sekunde früher.
»Aber wenn …« Seine Unruhe wuchs von Sekunde zu Sekunde. Er war verfolgt worden, von dem Augenblick an, in dem Helmbrechts Brief bei ihm eingetroffen war. Exakt genauso lange war der Professor nicht zu erreichen. Und Helmbrecht war bei ihm gewesen in seinem Traum, als sich die unfassbare Bedrohung in ihrem Rücken näherte.
»Wo ist der Professor?«, murmelte er unbehaglich. »Er ist nicht im Krankenhaus, und er ist auch nicht hier. Wenn er mitgekriegt hätte, was du an den Rollläden angestellt hast, wär er mit dem Stock gekommen.«
Sie hob die Schultern. »Woher sollte ich wissen, ob ihr nicht beide tot im Haus liegt? Nachdem du auf meine SMS nicht geantwortet hast.«
»Mein Handy liegt in Caputh, bei Fernwaldt. Seit heute Mittag konnte ich nicht mehr bei Helmbrecht anrufen, um mir seine Ansage auf dem AB anzuhören: Finden Sie die Lösung, oder ich spreche kein Wort mehr mit Ihnen, wenn ich tot bin. - Die Lösung haben wir jetzt. Wir müssen es im Institut versuchen, das ist die letzte Chance. Wenn er dort nicht ist …«
Amadeo schüttelte den Kopf.
Nein! Er würde es nicht aussprechen.
Mehr als mit seiner Frau war Professor Helmbrecht mit seiner Arbeit verheiratet. Amadeo erinnerte sich nur zu gut, zu welchen unglaublichen Tages- und Nachtzeiten man seinen Mentor im Institut hatte antreffen können, wo er fieberhaft über irgendwelchen Handschriften brütete, Details der spätkarolingischen Minuskel untersuchte, ohne sich daran zu stören, dass der ganz
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