Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
eine Haut wie eine Leprakranke. Die unreine Haut war Tias auffallendster Makel gewesen, zumindest hatte Juliette diesen Eindruck gehabt, als sie sie vor Jahren aus der Entfernung beobachtet hatte. Vielleicht hatten die Hormone und die Jahre die Haut inzwischen in eine Kraterlandschaft verwandelt.
Wirklich aufmerksam von Tia, den Namen und die Adresse der Beratungsstelle, bei der sie arbeitete, in ihrem Brief anzugeben. Allerdings wunderte sich Juliette, als ihr GPS sie zu einer Kirche führte. Sie wollte nicht zu nahe herangehen, aber schließlich stieg sie doch aus ihrem Wagen aus und ging über einen von Unkraut überwucherten Plattenweg. Die massive Eingangstür, flankiert von hohen Nadelbäumen und unbeschnittenen Sträuchern, war verschlossen. Juliette trat einen Schritt zurück.
Ein ausgetretener Weg führte zu einem Parkplatz hinter dem Gebäude. Ein Ziegelstein hielt eine schwere Seitentür auf, vor der ein junger Mann mit einer Schirmmütze stand und rauchte. Ein Straßenbesen lehnte an der Wand.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Mann, trat seine Zigarette aus und schob die Kippe mit dem Fuß zu dem Dreckhaufen, den er zusammengefegt hatte.
»Ich fürchte, ich habe mich verfahren«, log Juliette. »Ist das hier das Spaulding Nursing and Therapy Center?« Sie sah sich scheinbar verwirrt um. »Sieht eher aus wie eine Kirche.«
»Sie haben sich tatsächlich verfahren, Lady. Wenn Sie zu dem Therapy Center wollen, müssen Sie den Parkway runterfahren. Das hier ist das Jamaica Plain Senior Advocate Center. Die haben ihre Büros hier in der Kirche.« Er sah sie mit schmalen Augen an. »Sind Sie sicher, dass Sie an der falschen Adresse sind?«
Juliette beugte sich über das silberne Klemmbrett, das sie in der Hand hielt. »Nein. Hier steht: Spaulding Nursing and Therapy. Ich bin Inspektorin und komme im Auftrag der Stadt.«
»Na dann. Viel Glück.« Er nahm seinen Besen, schob den Ziegelstein weg, der die Tür offen hielt, und ging in die Kirche.
Es war ihr erstaunlich gut gelungen, sich zu verstellen. Vielleicht besaß sie ja ein verborgenes Talent. Falls sie sich von Nathan trennte, könnte sie ihren Laden aufgeben und Privatdetektivin werden.
Nachdem sie sich nun vergewissert hatte, dass sie den richtigen Ort gefunden hatte, ging Juliette zurück zu ihrem Auto, fuhr um die Kirche herum auf den Parkplatz und suchte sich eine Stelle, von der aus sie die jetzt geschlossene Tür im Auge behalten konnte. Gegenüber der Kirche befand sich ein unbebautes, von Bäumen und Rankpflanzen überwuchertes Grundstück.
Voller nervöser Energie, aber ohne eine konkrete Absicht, ging sie die Kassenzettel durch, die sich in ihrem Portemonnaie angesammelt hatten. Dann räumte sie das Handschuhfach auf. Viel lieber hätte sie Nathans Handschuhfach aufgeräumt und dabei nach weiteren Beweisen für seine Untreue gesucht.
Als sie ein Jahr nach Nathans Geständnis in seinem Handschuhfach eine vergessene Karte von Tia gefunden hatte – sie lag zerknittert in der hintersten Ecke –, hatte sein Verrat sie wieder mit voller Wucht getroffen. Sie brauchte nur flüchtig an diese Karte zu denken, und das Gefühl war wieder da.
Auf der vermaledeiten Karte, abgeschickt nur wenige Tage vor Nathans Geständnis, war ein schlichtes rotes Herz abgebildet, darunter in roter Schrift: »Schicksal.« Auf der Innenseite, in akku rater Handschrift: Ich bin besessen von dir. Tia .
Und jetzt war Juliette von Tia besessen. Am liebsten hätte Juliette Nathans Herz mit dieser Karte in tausend Stücke zerhackt, genauso wie er es mit ihrem Herz gemacht hatte.
Tia kam heraus.
Sie hatte nicht zugenommen – wenn überhaupt, wirkte sie noch schmaler, knochiger. Ihre Haut war nicht schlimmer geworden, aber auch nicht besser. Sie trug das Haar immer noch kurz, allerdings zu einer Strubbelfrisur gegelt, eher à la Oliver Twist als Vogue . Wie war es möglich, dass ihr mangelndes Gespür für Stil sie noch verletzlicher wirken ließ? Solche Frauen weckten den Beschützerinstinkt in Männern, die sich regelrecht darum rissen, sie zu retten.
Welch ein Anblick. Das zarte Geschöpf, das ihr Kind zuerst weggegeben hatte wie einen Sack Müll und es dann zum Vorwand nahm, um sich wieder an Nathan ranzumachen. Warum hatte sie ihre Tochter nicht behalten? War es Egoismus? War sie nur schwanger geworden in der Hoffnung, Nathan an sich zu binden?
Juliette beobachtete Tia. Lerne deinen Feind kennen. Tia trug billige, geschmacklose Fummel, wahrscheinlich
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