Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
siebziger Jahren – er trug sogar ausgelatschte Ledersandalen, ohne Socken.
»Ich hab gehört, du hattest Streit mit Katie.« Er verschränkte die Arme über seiner Wampe. »Sie war den Tränen nahe, als sie mich angerufen hat.«
»Hat sie dir auch erzählt, dass sie heute Mittag abgehauen ist und mich mit der Arbeit allein gelassen hat?«
»Sie hat mir gesagt, es gäbe ein Problem mit den Kindern.« Richard beäugte sie über seine verschmierte Brille hinweg.
»Sie hatte einen Termin mit der Lehrerin ihrer Tochter. Hätte sie den denn nicht auf den späten Nachmittag legen können?«
Tia wunderte sich selbst über ihren weinerlichen Ton. Sie klang wie eine Zweitklässlerin, die eine Klassenkameradin verpetzte. Außerdem verließ Richard das Büro regelmäßig am frühen Nachmittag. Solange Tia und Katie die Termine mit ihren Klienten einhielten und die Papierkörbe nicht in Brand setzten, war er zufrieden.
Richard holte tief Luft. »Ich glaube, du weißt, dass ich versuche, ein netter Chef zu sein. Ich begegne dir mit dem gleichen Verständnis und mit der gleichen Flexibilität wie Katie.«
Tia knallte ihren Kuli auf den Schreibtisch. »Ich bin es leid, dass die Kinder als Vorwand für alles und jedes herhalten müssen. Dauernd kommen Katie ihre heiligen Mutterpflichten dazwischen, und dann heißt es jedes Mal: Tia übernimm! Katie muss gerade Windeln wechseln.«
Richard wirkte zugleich verwirrt und wachsam. »Mutterschaft verlangt gewisse Opfer.«
»Und warum bin ich immer das Opfer?«
Richard ließ seinen Blick über das stumme Telefon, Katies makellos aufgeräumten Schreibtisch und das Chaos auf Tias Schreibtisch wandern. »Fühlst du dich überfordert?«
»Darum geht es nicht.« Tia hätte heulen können, weil sie eigentlich selbst nicht wusste, worum es ging.
Richard schloss die Augen und stand einen Moment lang reglos da, als versenkte er sich in eine Art Trance. Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Vielleicht solltest du einfach für heute Feierabend machen und nach Hause gehen. Ruh dich aus. Ich übernehme das Telefon.«
11. Kapitel – Tia
Die Szene mit Katie und Richard ging Tia nicht aus dem Kopf, während sie sich gegen den Wind duckte. Wieder einmal hatte sie vollkommen die Beherrschung verloren. Nathan hatte es nie ausstehen können, wenn sie so außer sich geriet. Es war immer gleich abgelaufen: Sie warf ihm seine Unfähigkeit vor, sich auf sie einzulassen, und er hatte theatralisch die Hände gehoben, als müsste er Fausthiebe abwehren. Nach zwei Monaten hatte sie ihn das erste Mal nach seinen sogenannten Absichten gefragt. Und als er sie ein knappes Jahr später sitzen ließ, war er ihr die Antwort immer noch schuldig gewesen. Vielleicht hatte sie ihn ja zu früh bedrängt, hatte zu früh zu viel verlangt.
»Lass uns ein andermal darüber reden«, hatte er sie immer wieder vertröstet. »Lass uns den Moment genießen. Alles andere ergibt sich von selbst.«
Rückblickend fragte sie sich, wie sie hatte so naiv sein können. Die Liebe hatte sie blind gemacht für die eigentliche Bedeutung seiner Worte: Bitte halt den Mund und verdräng das Problem, so wie ich!
Sie war davon überzeugt gewesen, dass er sie liebte. Hatte sie sich alles nur eingebildet?
»Ich hatte nie vor, mich in dich zu verlieben«, hatte er einmal gesagt.
»Und was hattest du vor?« Hatte er ihr damit sagen wollen, dass er sie nicht liebte? Ihr Lächeln war vor Angst ganz verkrampft gewesen. Sie hatte ihn von Anfang an geliebt. Er war intelligent, fürsorglich. Leidenschaftlich in Bezug auf seinen Beruf, auf die Welt. Einen Mann wie Nathan hatte sie noch nie kennengelernt. In Gesprächen und im Auto führte er sie an exotische Orte, von denen sie gar nicht geahnt hatte, dass es sie in der Nähe von Southie gab.
Wieso fand er die Zeit, sie mit an Orte wie das Fruitlands Museum in Lincoln zu nehmen? Hatte er sich so stark zu ihr hingezogen gefühlt, dass er seine Schuldgefühle überwand und seine Familie einen ganzen Tag allein ließ, oder war er schlichtweg vor seiner Frau und seinen Söhnen geflüchtet?
Hätte er nicht mit ihnen am Strand sein müssen anstatt mit ihr in dem Museum, der ehemaligen Agrarkommune, in der vorübergehend Louisa May Alcotts Familie gewohnt hatte?
Tia hatte sich an jenem heißen Julinachmittag alle Mühe gegeben, diese Gedanken von sich wegzuschieben. Sie hatte die Decke ausgebreitet, die sie auf Nathans Wunsch hin eingepackt hatte. Er hatte Obst, Käse und Salzgebäck mitgebracht
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