Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
stellte er ihre Geduld erneut auf die Probe. Tia war davon überzeugt, dass er sich nur einmal in seinem Leben richtig ins Zeug gelegt hatte: als es darum ging, diesen Posten zu ergattern. Von da an hatte er die Füße auf den Tisch gelegt und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Und sie war davon überzeugt, dass es sich bei den »Morgensitzungen«, derentwegen er ständig das Büro verließ, um Sitzungen mit seinem Computer handelte, die mit seiner Leidenschaft für Computerspiele zu tun hatten.
Katie kramte herum, aber Tia ignorierte sie.
»Ich gehe«, sagte Katie.
Ihre knappen Worte drangen wie Nägel in Tias schmerzenden Kopf. Als sie aufblickte, stand Katie in ihrem Trenchcoat vor ihr, die Sonnenbrille in der Hand, gewappnet gegen Regen und faltenproduzierende Sonnenstrahlen.
»Hast du eine Besprechung?«, fragte Tia.
»Ich habe einen Termin mit Natashas Lehrerin.«
Tia schaute Katie wortlos an, die daraufhin hastig losplapperte.
»Natasha leidet neuerdings an unerklärlichen Ängsten. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie hat Albträume. Stopft sich mit Essen voll. Heimlich. Neulich habe ich eine leere Großpackung Chipsunter ihrem Bett gefunden.«
Das kleine Mädchen tat Tia leid, aber sie beneidete Katie so sehr darum, dass sie ihre Sorgen um ihre Tochter laut aussprechen konnte, dass sie nur schnippisch fragte: »Wann bist du wieder zurück?«
»Zurück?« Katie setzte sich die Sonnenbrille auf den Kopf wie einen Haarreif, mit dem sie sich ihr perfekt frisiertes Haar aus der Stirn schob. »Bis ich es zurück geschafft hätte, wäre längst Feierabend.«
»Warum hast du keinen anderen Termin ausgemacht?« Tia verabscheute sich selbst für ihre gehässige Frage, aber sie kam nicht dagegen an. Ihre Mutter hatte sie immer wieder ermahnt, nicht so aufbrausend zu sein. Aber sie würde es wohl nie lernen. »Eines Tages«, hatte ihre Mutter sie gewarnt, »wird es zu spät sein.«
»Herrgott noch mal, du bist doch heute Morgen auch erst um zehn erschienen.« Katie zog ihren Gürtel fester.
»Es war halb zehn, und ich habe vor, bis halb sechs zu arbeiten. Außerdem habe ich noch einen späten Termin mit einem Klienten. Einen Hausbesuch«, log Tia.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte Katie. »Dieser Termin bei der Lehrerin ist wichtig.«
Tia musste Katie recht geben. Was war bloß los mit ihr? Warum konnte sie sich nicht beherrschen?
»Außerdem, kommt Richard nicht gleich?«, fragte Katie.
Tia verzog das Gesicht, um anzudeuten, dass damit wohl kaum zu rechnen war. »Du weißt genau, dass man zu nichts kommt, wenn man ständig ans Telefon gehen muss.« Sie hielt Katie ihre Liste entgegen. »Sieh dir die Liste an.«
»Tia, du kannst dir anscheinend nicht vorstellen, was ich im Moment durchmache. Warum verhältst du dich so?«
Tia wandte sich ab, sie konnte Katies vorwurfsvollen Blick nicht ertragen. Katie hatte recht, sie war zu weit gegangen. Noch etwas, wovor ihre Mutter sie immer gewarnt hatte: »Tia, versuch nicht, andere ins Unrecht zu setzen, nur damit du besser dastehst. Versuch einfach, nett zu sein, Liebes.«
Tias Mutter hatte eine natürliche Liebenswürdigkeit ausgestrahlt, selbst dann noch, wenn sie zu erschöpft gewesen war, um irgendetwas Nettes zu tun. Tia fürchtete, dass sie den Charakter ihres Vaters geerbt hatte. Ihre Mutter hatte seine Familie immer als verbitterte Mischpoke bezeichnet. Sie wollte nicht verbittert sein. »Entschuldige, Katie. Es … es tut mir leid.«
»Mutter zu sein ist kein Teilzeitjob. Vielleicht wirst du das ja eines Tages verstehen.« Katie hängte sich die Handtasche über die Schulter und wandte sich ab.
»Ach, vergiss es«, murmelte Tia.
»Was hast du gesagt?«
»Schon gut, okay?« In Wahrheit war Tia heilfroh, dass Katie ging. Sie wollte allein sein.
»Das hier ist ein Büro, keine Kneipe. Vergiss das nicht. Wenn es sein muss, werde ich mit Richard darüber reden. Ich kann es nicht brauchen, dass du deine schlechte Laune an mir auslässt.«
»Komm schon, Katie. Jeder hat mal einen schlechten Tag.«
»Nicht so oft wie du. Ich meine es ernst, Tia. Ich weiß wirklich nicht, was dich in letzter Zeit reitet, aber du solltest dir besser überlegen, was du sagst.«
Zwei Stunden später klopfte es an die Wand neben ihrer offenen Bürotür. Ehe sie reagieren konnte, steckte Richard den Kopf zur Tür herein. Er sah aus wie ein Schrat mit seinem wirren Haar, der dicken Brille und dem Zottelbart. Richard lebte immer noch in den späten
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