Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Nummer zweimal auf, und Tia notierte sie sich hastig. Für den Fall, dass sie die Nummer falsch mitgeschrieben hatte, löschte sie die Nachricht nicht.
Für den Fall, dass sie sich die Nachricht noch einmal anhören wollte.
Sei nicht dumm , ermahnte sie sich. Schließlich hatte er nicht angerufen, um ihr seine Liebe zu erklären, sondern um ihr Vorwürfe zu machen.
Aber immerhin hatte er angerufen. Als Tia Nathans Stimme das letzte Mal gehört hatte, war sie im fünften Monat schwanger gewesen. Es war ihr letzter Versuch gewesen, Nathan dazu zu überreden, mit ihr zusammenzubleiben. »Aber du liebst mich doch!«, hatte sie gejammert. »Ich weiß, dass du mich liebst!«
Allzu oft hatte sie solche Situationen mit Nathan erlebt. Sie hatte sich genau überlegt, was sie hatte sagen wollen, sich vernünftige Argumente zurechtgelegt, und am Ende hatte sie nur herumgejammert. »Ich weiß, dass du mich liebst. Ich weiß es, ich weiß es.«
Irgendwann hatte Tia einsehen müssen, dass sie wahrscheinlich ihre eigene, an Besessenheit grenzende Liebe in Nathan hineinprojiziert hatte. Viel zu lange hatte sie geglaubt, dass seine Liebe zu ihr echt war, dass seine Worte ernst gemeint waren. »Ach, Tia, du bist so anders als alle anderen – so natürlich, so authentisch. Ich liebe dich.«
Vielleicht hatte Nathan mit »Ich liebe dich« in Wirklichkeit nur gemeint: »Ich bin scharf auf dich, aber ich bin zu wohlerzogen, um es auszusprechen.«
War es möglich, dass er sie liebte und gleichzeitig seine Frau?
War es möglich, dass er sie liebte, obwohl er nichts von ihrem gemeinsamen Kind hatte wissen wollen?
Tia hoffte, dass er genauso wenig von ihr loskam wie sie von ihm. Dass sie wie ein Gespenst in seinem Kopf herumspukte.
Immer wenn ihr etwas Schlimmes passiert war, hatte sich derselbe Silberstreif am Horizont gezeigt: Ihr verzweifeltes Bedürfnis nach Trost hatte ihr tatsächlich einen Ausweg beschert, oder? Jetzt hatte sie das Recht, ihn anzurufen, oder nicht? Ein Recht, das ihr, wie sie glaubte, nach dem Jahr, das sie zusammen verbracht hatten, sowieso zustand. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr erster Gedanke gewesen: Ich rufe Nathan an! Als sie gestürzt war und sich drei Rippen gebrochen hatte: Nathan wird mir helfen! Selbst als Richard ihr gekündigt hatte, hätte sie am liebsten sofort bei Nathan angerufen.
Aber sie hatte es nie getan. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass Nathan mit Sicherheit wenn überhaupt, nur äußerst selten an sie dachte, während er in ihren Gedanken ständig unterschwellig präsent war. Wenn sie Hilfe brauchte, rief sie Robin an und gestattete sich nur hin und wieder abends beim Einschlafen, davon zu träumen, dass Nathan sie tröstete.
Tia spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie überlegte, ob sie kurz duschen sollte, um wach und bereit für das zu sein, was Nathan ihr zu sagen hatte, doch sie fürchtete zu sehr, dass in den paar Minuten, die sie dafür brauchte, ihre Chancen bei ihm für immer vertan sein würden. Allein sich einen Kaffee einzuschenken, konnte gefährlich sein. Was, wenn er es sich genau in dem Moment anders überlegte? Was, wenn seine Frau ihn, während Tia zusah, wie sich ihre Tasse füllte, vom Telefon weglockte?
Zuerst las sie die Nummer, die sie sich notiert hatte, dann schrieb sie sie noch einmal sorgfältiger aus. Erst dann wählte sie.
»Tia?«
»Wenn man’s schon auf dem Display sieht, ist es keine Überraschung mehr, was?«, sagte sie.
Seine Stimme, o Gott, sie ging ihr durch Mark und Bein.
»Warum sollte ich überrascht sein, wo ich dich doch erst vor wenigen Minuten angerufen habe«, entgegnete er.
Sie kniff angestrengt die Augen zu, versuchte, seine Stimmung zu erahnen. Sie war einmal richtig gut darin gewesen, Nathan einzuschätzen. An seiner Stimmlage hatte sie erkannt, wie viel sie sich herausnehmen konnte. Zum Schluss hatte sie jedes Wort seinem Gemütszustand angepasst. Diesmal klang er vorsichtig.
Aber sie hörte auch eine ganz winzige Spur Neugier. Tia, die Nathan-Expertin, war in der Lage, Interesse aus seiner Stimme herauszuhören, und sei es auch noch so minimal.
»Es wundert mich, dass du dich bei mir meldest«, sagte Tia.
»Wieso wundert dich das, nachdem du mir diesen Brief geschickt hast?«
»Es ist fast zwei Monate her, dass ich dir die Fotos geschickt hab.«
»Ich habe sie jetzt erst erhalten«, sagte Nathan in seinem Professorenton. »Juliette hat sie abgefangen.«
»Abgefangen? Was soll das
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