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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Reinigungswerk abzuwenden, »Sie sind hier auf dem Bau, Bauarbeiter tragen keine Hemden.«
    Ich fragte sie, wie sie eigentlich nach Sanchor gekommen sei, wer denn überhaupt gewußt habe, welche Schätze sich unter dem Fledermauskot verbargen.
    »Ein alter Freund von mir, ein ehemaliger Verehrer kennt hier jeden Stein und jedes bemalte Winkelchen.« Sie begann, mir eine Kunsthistorikerexistenz zu schildern, die Besessenheit des Sammelns und Forschens um des bloßen Wissens willen. »Ich behaupte, Nicolas Jenkins ist eigentlich blind und für Schönheit und Häßlichkeit gleichermaßen verloren.« Am Ende siege bei solchen Naturen aber die Häßlichkeit, denn sie sei das Häufigere, stets zur Hand Liegende, während die Schönheit aufgespürt werden müsse. Man könne die Verachtung der Kunsthistoriker für die Schönheit sehr gut daran ablesen, wie sie in ihrer gelehrten Prosa das Wort »schön« gebrauchten. »In der linken Seitenkapelle eine schöne Johannesskulptur aus dem 16. Jahrhundert«, heiße es da etwa, oder »Man betritt den Kreuzgang durch ein schönes Portal des 12. Jahrhunderts« – das bedeute immer, daß es sich um anonyme, vollständig uninteressante Arbeiten handle, »schön« sei in solchen Baubeschreibungen das Synonym für Drittrangigkeit, die auf eindringendere Charakterisierung keinen Anspruch erheben dürfe. Die Miniaturen der Fledermauskammer seien in den blinden Augen des Nicolas Jenkins übrigens ganz und gar nicht »schön«, sondern repräsentierten den »reifsten Typus später Mogul-Kunst«.
    Mit Sympathie sprach sie nicht von ihrem verflossenen Freund. Zwei Sorten Engländer gebe es nach ihrer Erfahrung: Die einen badeten unablässig, die anderen überhaupt niemals. Nick habe zur zweiten Sorte gehört, ein saurer Buttermilchgeruch sei von ihm ausgegangen. Wenn er den Pullover auszog, habe sich die Luft mit dem Dunst der Umkleideräume von Knabeninternaten gefüllt. Ich dachte unwillkürlich daran, wie sie über mich sprechen werde, nachdem ich inzwischen in höchstem Maß unfrisch über ihr stand, der Terpentingeruch mochte allerdings manches übertönen, aber der Gedanke an einen Raubtierkäfig war nicht mehr abzuweisen. Zwei große und im Vergleich zu den indischen Kindern nun gar monströs schwere Menschen fanden sich gleichsam zwischen zwei Buchseiten gepreßt; ja, so mußte man diese Kammer nennen, mit ihren winzigen illustrativen Bildchen, ein kostbares, mit allem Luxus der Bibliophilie ausgestattetes Werk, ein Märchenbuch, das reale Menschen zwischen seinen Seiten einfangen und darin festkleben konnte. Nicolas Jenkins, der von Iris jetzt nur noch Nick genannt wurde, war von der Miniaturmalerei persischen Ursprungs, wie sie die Moguln und dann auch ihre Feinde, die rajputischen Fürsten, weiter pflegen ließen, gleichsam imprägniert. Miniaturen waren die einzigen Bildwerke, die er überhaupt wahrnahm. Ein großer Tizian wäre ihm vermutlich selbst dann unsichtbar geblieben, wenn man ihn mit der kurzen, stumpfen Nase darauf gestoßen hätte.
    In Parenthese nur sei vermerkt, daß es wohl gerade der Krieg ist, der zur Verbreitung, zum Studium und zur Nachahmung der jeweils feindlichen Kultur führt. Erst wenn man den anderen umbringen will, interessiert man sich wirklich dafür, wie er sich kleidet, welche Musik er hört und was er liest. So war auch Nicks Wissen eine Frucht, eine mittelbare jedenfalls, der Gewalt. Sein Vater hatte als englischer Colonel Massendemonstrationen gegen England in Kalkutta niedergeschlagen und in den ruhigeren Phasen seines Dienstes eine große Sammlung graeco-indischer Münzen angelegt, die offenbar ziemlich einzigartig war. Nick versuchte, diese Sammlung loszuwerden, was Iris diesmal sogar verstand.
    »Können Sie etwas mit Münzen anfangen? Diese kleinen, überwiegend übrigens ziemlich häßlichen Münzen finde ich völlig reizlos.« Es war schließlich eine Art Provinzialkunsthandwerk, oft genug mußte man raten, was überhaupt darauf abgebildet war, aber der alte Colonel Jenkins hatte jedes Stück beschrieben und zugeordnet, eine Heidenarbeit, die ihm nun niemand danken wollte. Nick war die väterliche Sammlung, den letzten Nachrichten folgend, immer noch nicht losgeworden.
    In Sanchor hatte Nick sich wiederholt aufgehalten, weniger mit den Augen, wie Iris behauptete, als mit einem gleichsam eingebauten Meßgerät nach Miniaturen suchend.
    »Der Maharao, dieser alte Narr, ist ja allzu bereit, jedweden dahergelaufenen Europäer zu empfangen.« Er

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