Das Beben
einprägsamen Ereignissen, hinter dem die Nacht in Manons Wohnung verschwand. Als ich überhaupt nicht mehr daran dachte, schlug ich eine Zeitung auf, in deren Feuilleton eine Kurzgeschichte von Ivan Schmidt abgedruckt war, eine Liebesnacht im Hotel, so kraß und männlich, wie er das eben machte. Zum Schluß hieß es: »Sie wimmerte aus einem Maskengesicht heraus, eine weißgeschminkte Opernsängerin. Ich stand auf und ging ins Bad. Breitbeinig stand ich vor der Schüssel. Die höchste Lust: das Pinkeln danach.«
Es war die Opernsängerin, die mir ein Hotel in der Nähe der Oper vor Augen treten ließ. Hier wohnten Sänger und Sängerinnen, im Frühstücksraum stand ein Klavier, manchmal sangen Sänger sich hier ein, dann wurde der Frühstücksraum abgeschlossen. Daß man ihnen in diesem Hotel so entgegenkam, belohnten die Künstler mit ihrer signierten Photographie. Ich erinnerte mich an die Wand mit den aneinandergedrängten Bildern von Sängern und Sängerinnen, Atelierphotos mit weichen Lichtern, die Gesichter auf Fernwirkung geschminkt, mit mützenhaft starren Perücken, füllige Frauen mit wehem Fischmund und starren Augen, als ob Ivan Schmidt das so beschrieben hätte, und obwohl er doch in Wahrheit gar nichts beschrieben hatte. Ich ließ die Zeitung sinken. Ich war frei von Haß oder Mißtrauen und ruhig wie im Grab, als ich das Telephonbuch nahm und die Nummer des Hotels heraussuchte. Der Portier sprach nur wenig Deutsch. Er rief die Wirtin herbei. Ich nannte ihr Manons Namen und das Datum der Nacht, in der ich auf sie gewartet hatte. Ob sich die Handtasche der Dame inzwischen gefunden habe?
Das Bedauern der Wirtin war mit leichter Gereiztheit gemischt. Nichts sei gefunden worden, gar nichts. Den Namen der Dame kenne sie nicht. Und dennoch war ich lange felsenfest davon überzeugt, daß sie Ivan Schmidt wiedergesehen habe. Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, was ihm, bei allem, was sie an ihm faszinieren mochte, fehlte: dasselbe wie mir – ein mit silbernen Härchen durchsetzter Schnurrbart.
8.
Zufall
In einem Alpental, von einem milchgrauen Gletscherbach durchrauscht, so laut, daß man sich nur schreiend unterhalten konnte, während die mitgeschwemmten runden Steine eigentümlich hohl auf dem Grund des Bachbetts rumpelten, lag am Fuß der Steilwand ein mächtiger Felsbrocken, groß wie ein Heustadel, der vom Gipfelgrat abgebrochen war und mit seinem Sturz wohl das ganze Tal hatte erbeben lassen. Nun war er wieder unbewegt wie in den ungemessenen Zeiträumen davor, aber auch für immer von dem Ort getrennt, an dem er gewachsen war. Ich sah ihm seine Verdutztheit an, von dort hoch oben losgerissen und in rasende Fahrt geraten zu sein und plötzlich mit einem bis in sein Innerstes reichenden Stoß zum Stehen zu kommen. Auch wenn er dort nun schon hundert Jahre lag, waren der Schreck und das Staunen über diese Katastrophe gewiß nicht abgeklungen. In dem träumerischen Bewußtsein, das ich diesem Felsen zuschrieb, entfaltete sich stets aufs neue das unausdenkliche Wunder des Sturzes und sein donnerndes Ende.
Meine flüchtige, zapplige kleine Seele mit der dieses Steins zu vergleichen ist natürlich der reinste Hohn. Der Tag, die Einheit, in der sie ihre Zeit maß, war für ihn wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmbar. Und doch glaubte ich, mit Manon eine Ewigkeit erlebt zu haben, die der des Steins hoch oben in der Felswand glich. Sie bestand aus Wochen oder vielleicht sogar Monaten, aber ihr Erlebnis war so eindringlich, daß die Zeit stillzustehen schien. Zwischen uns war ein neuer Zustand erreicht, eine Gewißheit. Niemals, so fühlte ich, würden sich meine Gefühle für Manon ändern. Ich hatte gezweifelt, sie überhaupt für mich gewinnen zu können. Die Eifersucht, die ich für gut begründet hielt, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, was sie bei mir suchen mochte, hatte mich gequält und mir oft genug die Trennung von Manon als einzige vernünftige Lösung, ja als Erlösung erscheinen lassen. Nach meiner Untersuchung im Fall Schmidt war diese Eifersucht in sich zusammengesunken. Ich hatte mit ganzer Seele im geheimen nur darauf gewartet, Manon zu verlieren, nachdem meine Verdächtigungen aber ihren absurden Höhepunkt erreicht hatten, war ich aus meiner Tollheit erwacht und sah nun klar, wie es zwischen uns stand.
Manon suchte nichts anderes als ich. Auch sie wollte sich arglos und treu an einen wirklichen Freund anlehnen, einen Menschen, der ihre Vorzüge bewunderte und ihre
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