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Das Beben

Titel: Das Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Abwesenheit das Wasser schließlich hier eintraf, kam offenbar gleich zuviel davon. Die Ranken umrahmten entlang der Wände in regelmäßigen Abständen Medaillons, Szenen im Stil persischer Miniaturen, vergrößert und vergröbert und ein wenig im Charakter englischer Zeitschriftenillustrationen, aber ein Medaillon fiel aus der Reihe: Dort sah man in naiver Manier einen Turbanhelden mit grimmigem Gesicht auf einem Kissen, und ihm gegenüber ein Bleichgesicht, einen Herrn mit Zylinderhut und karierten Hosen.
    »Das ist der berühmte Colonel James Todd«, sagte Sharma. Dieser Engländer gehörte in die Zeiten der berüchtigten Ost-Indien-Kompanie, war einer jener legendären »Agenten«, jener Männer, die die Fürstenhöfe in ihren Griff nahmen und deren Länder regierten, indem sie die angestammten Fürsten und Könige teils kauften, teils erpreßten. Colonel Todd nun war über die Wühl- und Vergewaltigungstätigkeit seines Berufsstandes weit hinausgegangen, indem er eine große Liebe zu seinen Opfern entwickelte. In seinen zweibändigen »Annals and Antiquities of Rajastan« vertrat er die These, die Rajputen-Fürsten seien, wie aus ihren edel-ritterlichen Gebräuchen leicht zu schließen, in Wahrheit Skythen, letztlich also Germanen gewesen; deshalb, so der menschenfreundliche Colonel, habe England die Pflicht, anständig mit ihnen umzugehen, eine verblüffende Schlußfolgerung, da sich sein mächtiges Vaterland durch Verwandtschaft mit irgendeinem anderen Volk, auf dem europäischen Kontinent etwa, niemals zu irgendwelcher Rücksichtnahme hatte bewegen lassen. Colonel Todds Werk sei das Lieblingsbuch von Hiseinis, erklärte Doktor Sharma, er hingegen finde es langweilig, nichts als Kriege und Kriege und Kriege und Ehre und Ehre und Ehre, sehr gleichförmig gehe es zu in diesen Annalen trotz des reichen Personals. Er, Sharma, sei ein Mann der Poesie. »The golden chamber« sei sogar, nach seinen Vorstellungen, aber nicht von ihm selbst, er sei unmusikalisch, »wunderschön« in Noten gesetzt worden und werde womöglich gar aufgenommen – am liebsten sänge er es selbst – er improvisierte in wehen, ziehenden Phrasen: »Fetzen erschöpfter Geruchswolken, Ruinenstätte des Überdrusses ...« mit hauchig heiserer Stimme, die unversehens recht lüstern klang. »Sie stehen hier in der Herzkammer von Sanchor, dem Höhepunkt unserer Kultur«, fuhr er fort.
    Kuckucksrufe mischten sich mit Pfauenkreischen von draußen. Der Greis war eingetreten, der Turban schwankte auf seinem entfleischten Kopf. Und wieder überreichte er mir einen Rechenzettel.
    »Der Wagen für die Fahrt zum Alten Fort erwartet Sie in einer Viertelstunde«.
    »Wer schreibt diese Zettel? Kommen diese Zettel von Seiner Hoheit? Ist er hier irgendwo?«
    Meinen Fragen haftete wahrscheinlich ungebührliche Neugier an, als hätte ich auf die Beantwortung irgendeinen Anspruch.
    Hiseinis sei stets sehr beschäftigt, sagte Sharma, und sein Ton war unversehens selber hoheitsvoll, um gleich darauf wieder zutraulich zu werden. Für Poesie habe Hiseinis überhaupt nichts übrig, verabscheue sie zwar nicht, dulde sie aber höchstens, weil zu Fürstenhöfen Poesie eben unabdingbar dazugehöre. Hiseinis sei Historiker, deshalb das Interesse an Todd, und Jurist, vor allem jedoch mit den Pflichten seiner Religion beschäftigt. Der verstorbene König, sein, Sharmas, Patient, habe seine Söhne angehalten, mit dem regelmäßigen Gebet frühzeitig anzufangen, man wisse nie, ob man im Alter dazu die Gelegenheit erhalte – und richtig, die letzten Lebensjahre des weiland Monarchen seien so von Krankheit gezeichnet gewesen, daß für das vorgeschriebene Gebet die Kraft kaum mehr gereicht habe.
    »Die Poesie ist das Fundament, auf dem die Throne ruhen«, sagte ich, indem ich eine alte preußische Anekdote zitierte, ohne Herkunftsangabe freilich, denn ich zweifelte daran, daß dem kleinen Arzt die Namen Gneisenau, König Friedrich Wilhelm III. und Preußen etwas sagten.
    »Das ist eine überraschende Ansicht«, sagte Sharma, »ich weiß nicht, ob ich zustimme. Viele Poeten sind gegen die Throne, von den modernen eigentlich alle, und auch ich denke fortschrittlich – meine Freundschaft zu Hiseinis ist persönlich, er kennt meinen politischen Standpunkt.«
    Wir traten auf die Terrasse. Jedes Zimmer hier schien ins Freie zu führen.
    »Ich eile jetzt zu meinen Patienten, und heute abend trage ich in unserer Dichtervereinigung ›Die neun Musen‹, gegründet von mir selbst,

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