Das Beil von Wandsbek
letzten beiden Kriegsjahre hindurch dem Verwaltungsstab der Militäreisenbahndirektion Wilna angehört und wußte von dem Kummer ein Lied zu singen, den das Transportwesen der O. H. L. damals bereitete. »Unser Weltkrieg war der erste große Krieg, der mit Lokomotiven gefochten wurde; der siebziger war dafür kaum eine Generalprobe. Von den Grenzen ab marschierten unsere Leute per pedes apostolorum. Erfahrungen liegen also vor, und wenn das Heer jetzt eine Abkehr von den Schienen gestattet, ist das der beste Beweis für unsere Friedensliebe. Der alte Moltke brauchte zwei Generationen, wenn man so sagen darf, um die Armee bahnreif zu machen. Gestattet die Reichswehr also dem Führer, mit Autos und Zementstraßen zu spielen –« Die beiden jüngeren Töchter brachen in Proteste aus, Ingebottel hielt sich die Ohren zu, und Annette hob ängstlich die Brauen – »so werdet ihr eure grauen Häupter ruhig zu Grabe tragen, ohne daß ihr erlebt, was eurer armen Mutter schließlich das Leben kostete.« – »Aber Papa«, sagte Thyra vorwurfsvoll, »das weiß der Führer doch besser als du. Wenn uns die Russen nicht überfallen.« – »Kindchen«, lachte Ingebottel, »sollen die sich mal trauen.«
Es wurde nichts aus der Fahrt nach Glasmoor. Herrn Lintzes Telephonist rief an: die fraglichen Papiere seien daselbst längst gefunden und der Redaktion des Schwarzen Korps zugeleitet worden; was die Herren damit machen würden, sei hierorts unbekannt. Herr Koldewey nickte, dankte und hängte ein. Am Abend schlug er seiner Verlobten vor, des Sonntags lieber mit dem D-Zug nach Cuxhaven hinauszufahren, wenn es nicht regnete, um von der Mole aus, soweit man komme, den Blick auf die Nordsee zu genießen, der ja was Großartiges habe, besonders bei Flut. Käte Neumeier sah ihren Freund an und freute sich seinerUnternehmungslust, beinahe hätte sie ihm du gesagt, als der gesetzte Mann dies kleine Abenteuer so munter vorschlug mit blanken Augen. Um eines Blickes von der Mole willen war sie als Wandervogel hinausgetippelt mit Friedel Timme, während der Herbststürme in der Zeit der Tag- und Nachtgleiche. Ein Mann, der den sechzig zuglitt! »Ja«, meinte sie bedächtig, »das könnte schön sein, wenn wir uns nicht erkälten.« Koldewey sah sie strahlend an. »Muß ich sagen«, rief er und vermied auch seinerseits die Anrede, »daß für unsereinen kaum schlechtes Wetter vorkommt, nur falsche Bekleidung? Warme Strümpfe, hohe Schuhe, gutes Wollzeug ...« – »Und den wirklich wasserfesten Regenmantel«, lachte Käte Neumeier, »mit dem ein guter Hamburger geboren wird. Fahren die Fräuleins mit oder machen wir das allein?« – »Müssen sie fragen«, beschloß Herr Koldewey, aufs Nebenzimmer deutend. Am Radio saßen seine drei Töchter, als er die Tür öffnete. Eine wohllautende Männerstimme, wahrscheinlich Herr Schlusnus, sang in guter Mitte zwischen Kunst und Natur Goethes Lied von den Heiligen Drei Königen mit ihrem Stern. Voll Behagen hütete sich Herr Koldewey, sie anzusprechen; alle drei lauschten wie gefesselt dem reizenden Nachspiel, mit welchem die Klavierstimme humorvoll und melodisch den Maskenzug malte, wie er sich glöckchenklingend allmählich entfernte.
Dieser Sonntag nach Neujahr brachte viel Weihnachtsurlauber aus der Mitte und dem Süden Deutschlands in ihre Standorte zurück, von Heer und Flotte nach Hamburg, Stade, Cuxhaven. Gleichwohl fanden die Ausflügler ein leeres Kupee zweiter Klasse, in welchem sie zu viert Platz nahmen, indes die Inhaber der beiden Fensterplätze seit Hamburg den Speisewagen nicht verließen. Herr Koldewey als Gastgeber hatte sich sehr gefreut, den jungen Bert Boje kennen zu lernen, der ja, wie er zu Käte leise bemerkte, bald zur näheren Verwandtschaft gehören werde. Käte Neumeier fragte sich, wie er das wohl meine; hatte er den beständigen, nachdenklich forschenden Blick bemerkt und richtig gedeutet, mit dem Annette den jungen SA.-Mann anschaute; hieß der: bist du vielleicht wieder ein Footh? Man kann niemanden davon dispensieren, Erfahrungen zu machen, das, Heinrich Koldewey, hatdir dein Nietzsche doch sicher schon gesagt. Aber wenn Annette, die da reizend und jungmädelhaft in ihrem Regenkostüm auf den graugestreiften Polstern saß, sich mit diesem Bert einließ, oder er sich mit ihr, so ward etwas Bleibendes gestiftet oder gar nichts. In ihm regierte das Neumeiersche Blut, und das war solide. Unterm nächsten Christbaum gibt es eine Doppelhochzeit und ein langes, friedliches
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