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Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
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die ungelenke Stimme von ihm geerbt hatte.
    Annette nickte, als Käte eine dahingehende Vermutung äußerte, wie aber passe das zu Dr. Laberdans Rutengängerei und zu allerlei anderen Ausweitungen der Wissenschaften? Gar nicht, meinte Dr. Koldewey, und bei seinem Aufstieg habe das Dritte Reich von Astrologen und ihrem Einfluß auf die Frauen weitesten Gebrauch gemacht. Besonders in den Jahren während und nach der Inflation, in denen Theosophie, Untergang des Abendlandes und Aufstieg eines Dritten Reiches aus alten mystischen Gesängen höchst sonderbar zusammenspielten. Er, Koldewey, mußte damals immer an Ibsens »Kaiser und Galiläer« denken und den Zauberer Maximos mit seinem »Fünften Rad am Wagen«. Nach jedem großen Krieg und jeder Revolution schlugen Wellen des Irrationalen hoch und unterstützten Heilande und Wundertäter. Ungefähr alle dreißig Jahre erfreute sich Europa eines solchen Pendelschwungs ins Dunkle; danach aber ermannte sich wieder Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, und blies den Spuk auf den großen Küchenhaufen der Vergangenheit, in welchem die Reste aller Religionen und Aberglauben den geistigen Schliemann erwarteten, der sie ausgrub und deutete. »Drittes Reich«, wiederholte er nachdenklich, »das erste des Apollon, das zweite des Gekreuzigten, paßt Adolf Hitler da nicht großartig als ebenbürtiger Dritter?«
    Käte Neumeier wünschte ihrem Neffen Verlegenheiten zu ersparen. Sie deutete auf das flache Land, über das die Dampfschwaden und Rauchwolken der Lokomotive heftig hingepeitscht wurden, auf die niedrigen, schrägdachigen Hütten unter kahlen Bäumen und fragte, ob das nicht eine voreilige Verwerfung sei noch unerkannter Naturtatsachen, viel geglaubter Spukgeschichten? Von hier bis weit hinauf nach Schweden und bis hinüber rechts nach Finnland, links nach Schottland, wimmelte es von Berichten über Leute, durchschnittliche Bauern, Fischer,Schiffsvolk, die, sonst ganz vernünftige Menschen, zukünftige Vorgänge oder örtlich weitentfernte Ereignisse sinnlich vor Augen gesehen hatten und dabei waren, körperlich, bis die Gestalten sich in Rauch auflösten oder in der Ferne verschwanden, sie selber aber feststellen mußten, daß hinzukommende Nachbarn oder Passanten von alledem nichts wahrgenommen hatten. Die Einsamkeit der Heide, Nebelschwaden und Wolkenzüge begünstigten Selbsttäuschungen jeder Art. Aber warum sprachen die Berichte nicht mehr von Höllenhunden und Geisterpferden, sondern, wie bei Swedenborg, von Ereignissen, deren Bestätigung nicht auf sich warten ließ? Das Innere des Menschen und seine Kräfte durften wahrhaftig nicht als bekannt gelten. Solange wir von Hypnose und Suggestion und anderem Spuk des Unbewußten nur grad die ersten Hieroglyphen entziffert hatten, mußten wir da nicht bescheidenerweise zugeben, daß wir immerfort geneigt blieben, die Tore des Erkennbaren zu früh zu schließen? Findet sich nicht selbst bei unserem klarsten Genius, ich meine Goethe, eine ganze Reihe glaubwürdig befundener Übersinnlichkeiten? Als er sich selbst im grauen Rock entgegenritt, von Sesenheim kommend, als sein Großvater Textor vorausträumte und seinen Angehörigen erzählte, was alsbald wirklich geschah? Natürlich sind wir arme Hasen. Natürlich kann ein Mann in Gotenburg nicht sehen, was sich zur gleichen Stunde in Stockholm ereignet. Aber wenn wir uns die Aufgabe stellen, das seelische System der Menschen zu erforschen, denen solche Gabe geworden ist, auch wenn wir selber nicht dazu gehören? Das produziert unleugbar solche Phänomene. Warum und warum grad bei diesen, wissen wir nicht. Noch nicht. Aber sind wir nicht recht neu im Prüfen und Verstehen?
    Herr Koldewey fühlte sich behaglich untergebracht in diesem Nichtraucherabteil, um nicht zu sagen, erstaunlich glücklich für einen Mann, der seine Zweitfrühstückszigarre vertagen muß, eben weil er den Damen und sich jene unangenehmen Gerüche ersparen will, die in der überheizten und trockenen Luft eines D-Zuges aus abgestandenem Tabaksrauch unvermeidlich entstehen. Sie war gescheit, seine neue Käte; wie sie da saß, die sprechenden Augen unter einem kleinen Lodenhut hervorleuchtend, konntesie ebenso viele Jahre unter vierzig sein wie drüber. Hatte Balzac die Frau von dreißig Jahren entdeckt, so wollte er, Koldewey, dem preisgekrönten Schriftsteller H. F. Punkt, seinem Stammtischkollegen beim Pflug, als sein nächstes Thema »Die Frau von vierzig Jahren« vorschlagen.

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