Das Beil von Wandsbek
fertig ist, bring mir’s für einen Tag herauf, ich schmökre es selber nochmals durch. Kann dir dann besser Auskunft geben, wenn er mich was fragen läßt.«
Der Schlächtermeister Teetjen hatte keine deutliche Vorstellung von dem, was eigentlich einen Roman von einem sachlichen Bericht unterschied. In eine durchschnittliche gute hamburgische Volksschule gegangen, wußte er natürlich, daß es Dichter gab, und daß sie sich nicht haargenau an diejenige Wirklichkeit zu halten brauchten, die einem Buchhalter, einem Arzt oder einem Schullehrer als maßgebend gelten mußte. Selbstverständlich erzählten viele Leute Lügen, und die Märchen bestanden ganz und gar aus solchen harmlosen, spaßmachenden – oder hatte schon jemand im Bauch eines Wolfes sieben lebendige, junge Geißlein gefunden? Und doch las jedes Kind die Geschichte vom Rotkäppchen, der Großmutter und dem Jäger und freute sich daran. Auch er, Albert, wie alle anderen seines Alters, hatte nicht genug davon bekommen können, und es war nur schade, daß Mütter fürs Geschichtenerzählen so wenig Zeit übrig hatten. Dennoch war’s mit dem Lesen, dem Selberlesen gedruckter Bücher eine eigene, ganz andere Sache. Was gedruckt werden durfte, mußte mit der Wahrheit übereinstimmen, sonst hätte ja jeder kommen und die Leute beschwindeln und dumm machen können – was die Polizei ja doch verbot, verfolgte und immer wieder empfindlich bestrafte; wie oft las man in der Rubrik »Gerichtssaal« von Hochstaplern, die unter falschen Vorspiegelungen Menschen Geld aus der Tasche gelockt und dafür Jahre hinter Schloß und Riegel gebüßt hatten. Das Gedruckte stand mit der Wahrheit in einem unterirdischen, aber um so festeren Bunde. Und als die republikanischen Zeitungen erzählten, der General Ludendorff habe sich nach dem Kriege mit einem Goldmacher namens Tausend eingelassen, hatten Kreise ehemaliger Soldaten erwartet, der Redakteur werde eingesperrt werden. Aber er wurde nicht – woraus man bei Lehmke folgerte – und Alberts Vater schlug damals mit der Faust auf den Tisch, daß die Biergläser sprangen – es gebe keine Justiz in der Republik, denn ein Mann wie Ludendorff wisse doch wohl, daß alle Goldmacher Schwindler waren und als solche entlarvt wurden. Erzählte hier also einer namens Jules Verne, daß Leute versucht hatten, in einen Vulkan einzusteigen und auf diese Weise ins Erdinnere zu gelangen, so brauchte die Geschichte natürlich nicht Wort für Wort zu stimmen.Dies und jenes war sicher erfunden, um den Leser zu amüsieren, zum Beispiel der ulkige Professor, der hier in Hamburg gewohnt haben sollte mit seiner Wirtschafterin und seinem Neffen. Aber ebenso wie es der Natur und Wirklichkeit entsprach, daß sich im Bauche des Wolfes und nicht beispielsweise in seinem Schädel befinden mußte, was das Tier gefressen, mußten die Angaben wahr sein, die über das Innere der Erde in diesem »Roman« vorausgesetzt wurden. Daher war ja kein Staatsanwalt aufgestanden, um das Buch »Mein Kampf« zu verbieten, obwohl damals, als es erschien, die Republik noch mit Volldampf vorausfuhr. Was da von der Weltverschwörung der Juden und Marxisten, der Plutokratie und dem französischen Erbhaß gedruckt war, ließ sich eben nicht bestreiten, ebensowenig, daß man dem internationalen Sozialismus einen nationalen entgegensetzen mußte, einen deutschen, in welchem Gemeinnutz vor Eigennutz ging und dem Börsenkapital die Schleier vom Leibe gerissen wurden. Gegen eine Wahrheit, auch eine unangenehme, war halt kein Kraut gewachsen. Und wenn jemand behauptet hätte, die Alma Doligkeit habe kürzere Beine als die Stine Teetjen, so hätte dem Eisenbahnsekretär eine Klage auf Beleidigung nichts genutzt. Selbst wenn er sie auf Anraten der Behörde hätte anstrengen müssen. Kürze und Länge von Beinen ließ sich eben nachweisen. Durch Augenschein oder Messung. In der Schule hatte man gelernt, am Anfang habe Gott Himmel und Erde geschaffen, und die Erde sei wüst und leer gewesen. Daß der Geist Gottes über den Wassern geschwebt habe, mußte man damals annehmen, denn irgendwo hatte der sich ja herumgetrieben, bevor er anfing zu schaffen. Und daß da überall Wasser gewesen, leuchtete einem Hamburger Jungen ein, auch wenn es sehr lange dauerte, bevor er einmal elbabwärts bis nach Cuxhaven mitgenommen wurde und das verdammte donnernde Untier persönlich erlebte, das Nordsee hieß. (Später dann war er bis nach Helgoland gekommen, tüchtig über die Reeling kotzend, aber das
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