Das Beil von Wandsbek
im Zimmer. Wie andere Kinder stehen lernen, lernte er sitzen, und seine Arme entwickelte er zu muskulösen Hilfsorganen. Zum Glück fiel seine Jugend in jene Epoche der Weimarer Republik, die, ohne wirkliche Sozialisierungen zu wagen, allem Sozialen und Menschenfreundlichen aufgeschlossen war, derart, daß sie den unbemittelten Schichten des Volkes aus städtischen und Landesmitteln ähnliche Hilfsquellen zubilligte, wie sie den Wohlhabenden aus Eigenem zur Verfügung standen. Da Hamburgs sozialistische Mehrheit in der Bürgerschaft überall mit gutem Beispiel voranging, konnten die preußischen Nachbar- und Schwesterstädte Altona, Harburg und Wandsbek nicht wohl zurückbleiben. So empfing Tom Barfey Bestrahlungen, Vitamine und Gymnastik wie ein erwachsener Kassenpatient. Er turnte sich mit den Armen die Treppe hinab und ruderte nach vollendetem sechstem Lebensjahr wie ein kleiner Kriegsverstümmelter zur Schule; es war eine jener hamburgischen Volksschulen, in denen die humane Gesinnung republikanischer Lehrer die angeborene Roheit der anderen Kinder energisch bändigte und ihr natürliches Mitgefühl für den Kameraden, Sohn eines Weltkriegsopfers, zu wecken wußte. Das ganze Viertel kannte den kleinen Tom und strahlte, als er bei zwei Gelegenheiten Schulpreise für gute Leistungen heimbrachte. Damals regte die Schulleitung bei der Mutter an, für Tom um unentgeltlichen Besuch der hamburgischen Oberrealschule einzukommen; ja, man wollte ihre Hinterbliebenen-Unterstützung erhöhen, um sie zu entschädigen für die Zuschüsse, die ihr dadurch verlorengingen, daß der Junge nun keine Muße haben würde, sie durch einen Erlös aus Schreibarbeiten zu unterstützen. Dieser Zeitpunkt trat im Frühjahr 33 ein, zugleich mit jener Machtergreifung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, die mit dem Fanal des Reichstagsbrandes aufleuchtete.Sie ließ den Knaben Tom noch ein vorzügliches Abgangszeugnis empfangen. Zunächst gelang es der Lehrerschaft, der Sozialpflegerin Dr. Käte Neumeier und den Eltern der meisten Kinder, auch noch etwas von der alten Atmosphäre des Wohlwollens und des Schutzes um den Knaben Tom zu erhalten, wenn er sich, ein kleiner Invalide ohne Beine, durch die Straßen auf einer Plattform ruderte, die er mittels geschenkter Rollschuhe und zweier selbstgesägter Handstützen angefertigt. Aber seitdem der Judenboykott des Jahres 1933 auch zwischen unpolitischen Teilen der Bewohnerschaft eine Kluft aufgerissen hatte, die Reichsregierung aber durch ihren Propagandaminister einen fast hellenischen Kult der Jugend, Schönheit und Gesundheit proklamieren ließ, jeder Verhätschelung des Kranken, Zukurzgekommenen den Kampf ansagend, ward für Tom Barfey die Straße ein immer unangenehmerer, bald aber ein unmöglicher Aufenthalt. Aus mehreren Gefechten mit Altersgenossen rettete er sich dank seiner unvergleichlich kräftigen Arme und Steinwürfe; gegen erwachsene SA.-Burschen aber half ihm auch nicht, daß er nur noch um Mitternacht die Wagnerstraße und die Wandsbeker Chaussee hinunterrollte; wenn sie in der frühen Dämmerung ihre Überfälle auf Republikaner, Juden und Sozialisten unternahmen, war es immer weniger geraten, den jungen Helden und Volksgenossen zu begegnen. Tom Barfey aber half sich durch. Er entdeckte die Welt der Dächer, der flachen wie der steilen. Ihm war mit der Republik und ihren Behörden, ihren humanitären und demokratischen Einrichtungen eine Jugendwelt gestohlen worden, das Leben selbst. Er war jung, er sah scharf aus seinen beiden Augen; da er seine Beine nicht gebrauchen konnte, gebrauchte er seinen Verstand. Es war schon recht, wenn Albert Teetjen vermutete, Tom Barfey sei kein Freund des Dritten Reiches.
Was für ein Feind, und welchen Grades, dieser von vielen so begrüßten politischen Erscheinung er aber wirklich war, das wußte nur er selbst und seine Mutter Geesche. Sie auch trug ihm ununterbrochen Arbeit zu, Broterwerb durch Schreiben von Adressen, Kopieren und Vervielfältigungen von Geschäftsprospekten, Reklamen und Verordnungen des Hauswarts, Lehrers Reitlinund der Straße. Seit sich die Deutschen Christen der Kirche bemächtigt hatten, war Tom es auch, der die Kundgebungen seines glaubenstreuen Pastors und früheren Schutzherrn Stavenhagen vervielfältigte, bis dieser Tapfere in einem Konzentrationslager der Lüneburger Heide Mut und Christlichkeit zu büßen hatte. Seine Haltung vermochte natürlich nicht, Tom von dem Unglauben abzubringen an einen
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