Das Beil von Wandsbek
– »Ja«, nickte Herr Koldewey, »den kennt jedes Kind. Und er ward ja auch wirklich im Reichstag betroffen, zündelnd und tanzend vor Glück. Und sagte brav aus, was er sollte, wie ein artiges Kind; und wird sich wahrscheinlich baß gewundert haben, als es dann ernst wurde, und seine Freunde ihn köpfen ließen. Ein arbeitsloser Kunde, durchaus entgleist, Asylist und asozial, aus der Gesellschaft gefallen, der er niemals angehörte, und mißbraucht von denen, die ihn unterwegs auflasen, zufällig kennenlernten. Ein Dr. Bell, wenn ich nicht irre, vermittelte die Bekanntschaft; irgendwo im Tirol wurde er später gekillt, auf Befehl von Röhm. Und auch diesen Röhm gibt’s nicht mehr. Das wundert dich? Unter den Brandstiftern kennen wir beiläufig die richtigen; ein paar Namen, Ernst und Heines. Beide weg. Was alles sich sehr aufregend anhört, aber es gar nicht ist.« – Annette blickte fasziniert in des Vaters Gesicht, streifte achtlos die Asche ihrer Zigarette ins Zimmer. »Bist du fromm geworden, Papa? Siehst du etwa den Finger Gottes?« Herr Koldewey bewegte seine langen Augenlider auf und ab. »Frömmigkeit, liebes Kind, Gläubigkeit – wie du willst, scheint mir ein unzureichender Versuch, mit den Rätseln des Weltlaufs fertig zu werden, seinen Bildungsgesetzen nachzutasten. Solche Bildungsgesetze gibt es. Mein Nachdenken geht auf einen engeren Punkt. Wir haben doch noch einen Asylisten unter uns, noch einen Asozialen, noch ein Werkzeug, das geschoben wurde und geschoben wird. Daß es sich ›Führer‹ nennen läßt, gehört mit zu dem Spaß oder Spiel, dem wir, wie du weißt, beiwohnen. Was es bedeutet, weiß ich nicht; aber sieh dir diese Kurven an. Ein Asylist schickt den anderen aufs Schafott. Einer hilft dem anderen zu cäsarischer Allmacht. Ein ganzes Volk stürzt in die Knie, die eine Hälfte gezwungen von der anderen, ruft Hallelujah und verzichtet jauchzend auf das höchste Glück der Erdenkinder. Was soll daraus werden? Wie lange soll’s gehen, tanzen oder spielen? Ich bin nicht mehr jung genug, um deswegen Angst zu haben. Gewöhnlich dauerten solche Lebensläufe eine halbe Generation. Und was kommt danach? Was wirdaus euch, den Kindern, hätt ich beinahe gesagt, und dir? Säh euch doch gern in Sicherheit, Annette. Würde euch gerne selbst durchsteuern. Darum betrachte ich die Dinge nicht unnervös.« – »Guter, alter Koldewey«, dankte Annette, setzte sich zärtlich auf seinen Schoß, küßte ihn aufs Ohr. »Und ich Ziege war enttäuscht, weil du dich nicht so freutest, wie ich’s gehofft hatte.« – »Freutest!« wiederholte Herr Koldewey und faltete seine Hände um den Leib des Mädchens. »Wenn es jetzt selber an uns herantritt! Wenn möglicherweise unsere Beihilfe benötigt wird, damit das Signal erschalle und der Stab aufs Parkett stoße! Es könnte ein durchgehendes Prinzip diese Dinge regieren. Mit der Hinrichtung von Unschuldigen wünscht es anzufangen, mit der Hinrichtung von Unschuldigen könnte es enden.« – »Du hältst diese Männer wirklich für unschuldig, trotz Prozeß und Gericht?« – »Sieh mal, Kind«, sagte Herr Koldewey, »das Leben wird nicht aus Marzipanteig geknetet. Wir sehen seine Bestandteile deutlicher als andere Leute, aber auch in Frankreich oder Rußland, überall, wo die Schichten ins Rutschen kamen, verarbeitete man lebendige Substanz. Was hat Abessinien gekostet? Wer steuert mit Non-Intervention den spanischen Bürgerkrieg? Vor ein paar Tagen schickte ein Herr in San Domingo, ein gewisser Trusillo, zwölftausend unwillkommene Einwanderer zu den Haifischen – wörtlich! – ein Neger andere. Und so ging es immer irgendwo zu auf unserer Erde – mit Gelben, Indern, Russen, Juden. Diesmal greift’s nach uns Deutschen. Hunderttausend Bürger in den KZ.-Lagern, Hunderttausende aus ihren Berufen gedrängt, über alle Grenzen, in die fernsten Länder. Fruchtbare Aussaat in den Augen des Philosophen. Von Paraguay bis Persien wird die Welt uns zu Dank verpflichtet. Wir sind der Pelikan der Legende, wir nähren sie mit dem Blut der eigenen Brust. Was dabei wirklich aus unserer Kultur wird? Frag Ernst Barlach, wenn er dir noch antworten kann.« Und er legte seine lange Hand von Annettes Hüfte fort aufs Haupt einer aus Holz geschnitzten Bäuerin von durchaus wendischem Typ, in ihrem Kopf- und Umschlagtuch eine Hockfigur eindrucksvollster Prägung. Der Tod des Bildhauers in einem mecklenburgischen Spital war vor kurzem gemeldet worden; das Dritte Reich hatte ihn
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