Das Bernstein-Teleskop
dem Tod gerade in die Augen. Sie konnte sich nicht erinnern, was er gesagt hatte. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie Tialys rasch den Magnetstein-Resonator sendebereit machte.
»Bist du mein Tod?«, fragte Lyra.
»Ja, das bin ich.«
»Du wolltest mich doch nicht schon mitnehmen?«
»Du hast nach mir verlangt. Ich bin immer da.«
»Ja, aber ... Ja, das stimmt, nur ... Ich möchte ins Land der Toten gehen, das ist richtig. Aber nicht sterben, nein, sterben möchte ich nicht. Ich freue mich, am Leben zu sein, und ich liebe meinen Dæmon, und ... Dæmonen gehen nicht dorthin, oder? Ich habe gesehen, wie sie wie eine Kerze verlöschen, wenn Menschen sterben. Hat man im Land der Toten noch Dæmonen?«
»Nein«, sagte er. »Dein Dæmon steigt in die Luft auf und du gehst unter die Erde.«
»Dann will ich meinen Dæmon mitnehmen, wenn ich ins Land der Toten gehe«, erklärte Lyra entschlossen. »Und ich möchte zurückkommen. Weiß man von Menschen, denen das gelungen ist?« »Nur wenigen. In vielen Jahrhunderten. Am Ende, mein Kind, wirst du ja doch ins Land der Toten kommen. Ohne Mühe und Gefahr reist du dann in Begleitung deines Todes, deines ergebenen Freundes, der alle Augenblicke deines Lebens bei dir war und dich besser kennt als du selbst -«
»Aber Pantalaimon ist doch mein ergebener Freund! Dich kenne ich nicht, Tod, aber Pan kenne ich und Pan liebe ich und wenn er jemals wenn wir jemals -«
Der Tod nickte. Er wirkte verständnisvoll und freundlich, aber keinen Augenblick lang konnte sie vergessen, wer er war: ihr eigener Tod, und noch dazu so nahe.
»Ich weiß, dass es schwer ist, den Weg jetzt weiterzugehen«, sagte sie, nun schon ruhiger. »Es ist auch gefährlich, aber ich will es so, Tod, ich will es wirklich. Und Will ebenfalls. Wir haben beide Menschen zu früh verloren und deshalb wollen wir einiges wieder gutmachen. Ich zumindest möchte das.«
»Ein jeder wünscht sich, noch einmal zu denen sprechen zu können, die ins Land der Toten gegangen sind. Warum sollte es für dich eine Ausnahme geben?«
»Weil«, und nun log sie sich eine Antwort zusammen, »weil ich dort, außer meinen Freund Roger wieder zu sehen, noch etwas anderes tun muss. Das hat mir ein Engel aufgetragen und nur ich kann die Aufgabe erfüllen. Die Angelegenheit ist so dringend, dass ich nicht erst bis zu meinem natürlichen Tod damit warten kann. Die Sache muss jetzt erledigt werden. Der Engel hat es mir befohlen. Deshalb sind wir hierhergekommen, Will und ich. Wir müssen es einfach tun.«
Hinter ihr packte Tialys sein Instrument wieder ein und schaute zu, wie das Kind mit seinem Tod darum feilschte, dorthin gebracht zu werden, wohin es niemanden verlangt. Der Tod kratzte sich am Kopf und hob dann die Hände, aber Lyra ließ nicht ab zu bitten, denn nichts konnte sie von ihrem Wunsch abbringen, nicht einmal die Furcht. Sie habe Schlimmeres gesehen als den Tod, behauptete sie, und das stimmte ja auch.
Und so sprach schließlich der Tod:
»Wenn dich wirklich nichts abhalten kann, dann sage ich nur: Komm mit mir, ich bringe dich ins Land der Toten, werde dich führen. Ich kann dir zeigen, wie man hineinkommt; aber wie man hinauskommt, das musst du selbst herausfinden.«
»Und meine Freunde«, sagte Lyra. »Mein Freund Will und die anderen.«
»Lyra«, sagte Tialys. »Wider alle Vernunft gehen wir mit dir. Ich war vorhin zornig auf dich. Aber du machst es einem auch nicht leicht ... «
Lyra fühlte, dass der Augenblick der Versöhnung gekommen war, und sie schloss gern Frieden mit ihm, hatte sie doch alles erreicht, was sie wollte.
»Ja«, sagte das Mädchen, »es tut mir wirklich Leid, Tialys, aber wenn Sie nicht zornig geworden wären, hätten wir niemals diesen Herrn gefunden, der uns nun führen wird. Deshalb freue ich mich, dass Sie und die Lady bei uns waren, und ich bin dankbar, dass Sie weiterhin bei uns bleiben wollen.«
So war es Lyra also gelungen, ihren Tod zu überreden, sie und die anderen in das Land zu führen, wohin Roger und Wills Vater, Tony Makarios und viele, viele andere gegangen waren. Und ihr Tod sagte ihr auch, sie sollten beim ersten Morgengrauen hinunter zum Anlegeplatz kommen und sich dort zur Abfahrt bereithalten.
Nur Pantalaimon zitterte und bebte, und was Lyra auch versuchte, er ließ nicht ab, leise vor sich hin zu stöhnen. So verbrachte sie eine unruhige Nacht auf dem Fußboden der Hütte, wo sie mit allen anderen schlief, während ihr Tod neben ihr saß und
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