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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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wachte.

Klettern
     
     

    Die Mulefa fertigten viele Arten von Seilen und Tauen an. Mary Malone brachte einen ganzen Vormittag damit zu, die Seile, die Atals Familie in ihrer Werkstatt hatte, zu begutachten und auszuprobieren, bis sie schließlich die für sie passenden fanden. Das Prinzip des Verdrillens und Schlagens war in der Welt der Mulefa unbekannt, deshalb gab es nur geflochtene Seile und Taue. Doch diese waren stark und biegsam und eigneten sich durchaus für Marys Vorhaben.
    Was machst du jetzt?, fragte Atal.
    Die Mulefa kannten kein Wort für »klettern«, so dass Mary allerlei
    Gesten und umständliche Beschreibungen verwenden musste. Atal war entsetzt.
    Du willst in die Baumkronen klettern?
    Ich muss nachschauen, was da oben passiert ist, erklärte sie. Du kannst mir jetzt helfen, das Seil vorzubereiten.
    Mary hatte einmal in Kalifornien einen Mathematiker kennen gelernt, der jedes Wochenende damit verbrachte, in Bäumen herumzuklettern. Sie hatte sich vorher schon ein wenig im Bergsteigen versucht und hörte ihm gespannt zu, als er ihr über die verschiedenen Techniken und die nötige Ausrüstung berichtete. In ihr wuchs der Entschluss, das selbst auszuprobieren, sobald sie Gelegenheit dazu fand. Selbstverständlich hatte sie sich nie vorstellen können, einmal auf Bäume in einer anderen Welt zu steigen. Auch war Mary nicht gerade von der Vorstellung begeistert, das ganz allein tun zu müssen, doch ihr blieb keine andere Wahl. Was sie aber tun konnte, war die ganze Unternehmung so sorgfältig wie möglich vor zubereiten.
    Mary nahm eine Rolle Seil, das lang genug war, um über einen Ast in der Baumkrone und wieder hinunter zum Boden zu reichen, und zugleich stark genug, um ihr mehrfaches Körpergewicht zu tragen. Dann schnitt sie sich eine große Zahl kürzerer Enden eines dünneren, aber doch sehr robusten Seils zurecht und band daraus Schlingen: kurze, mit einem Seemannsknoten gesicherte Schlaufen als Halt für Hände und Füße, wenn sie erst einmal am Hauptseil befestigt waren.
    Die erste Schwierigkeit bestand darin, das Seil über den Ast zu bringen. Mary experimentierte fast zwei Stunden lang, bis sie aus einer dünnen Schnur und einem biegsamen Ast einen Bogen gefertigt hatte. Mit dem Schweizermesser schnitzte sie sich ein paar Pfeile und verwendete statt Federn harte Blätter, die sie zur Verbesserung der Flugeigenschaften am hinteren Ende des Schafts befestigte. Es kostete Mary einen ganzen Tag Arbeit, ehe sie mit dem ersten Versuch beginnen konnte. Doch die Sonne ging schon unter, und ihre Arme waren müde. Sie aß nur noch rasch etwas und legte sich dann schlafen, während die Mulefa bis spät in die Nacht Marys Vorhaben mit den ihnen eigenen melodischen Flüsterstimmen diskutierten. Am nächsten Morgen machte Mary sich gleich daran, einen Pfeil über einen Ast zu schießen. Einige Mulefa hatten sich in der Nähe versammelt und schauten besorgt um Marys Sicherheit zu. Klettern war für Lebewesen mit Rädern etwas so Unvorstellbares, dass ihnen schon der bloße Gedanke Angst einflößte.
    Mary verstand, wie sie fühlten. Sie verdrängte ihre Nervosität, band eine ihrer dünnsten und leichtesten Schnüre an einen Pfeil und schoss ihn steil in die Luft. Der erste Pfeil ging verloren. Er blieb irgendwo oben in der Borke stecken und war nicht mehr frei zu bekommen. Mary verlor auch den zweiten Pfeil. Dieser flog zwar über den Ast, fiel dann aber nicht weit genug, um auf der anderen Seite auf dem Boden zu landen. Als sie ihn zurückziehen wollte, blieb er hängen und zerbrach. Die Schnur fiel zusammen mit den Schafthälften zu Boden. Mit dem dritten Pfeil hatte Mary Erfolg.
    Vorsichtig, aber stetig zog Mary, damit die Schnur nirgendwo hängen blieb, und das vorbereitete Kletterseil stieg an der Schnur nach oben, über den Ast und an der anderen Seite wieder nach unten, bis beide Enden den Boden berührten. Dort band sie die Enden fest an eine Baumwurzel, die den Umfang ihrer Hüften hatte. Das müsste als Verankerung eigentlich genügen, dachte sie. Was Mary vom Boden aus allerdings nicht beurteilen konnte, war die Beschaffenheit des Astes, an dem letztlich alles, sie eingeschlossen, hängen würde. Anders als beim Felsenklettern, wo man das Seil an Haken befestigte, die alle paar Meter in den Stein gehauen wurden, so dass man immer nur wenige Meter fallen konnte, hatte Mary es hier mit einen langen Seil zu tun und, wenn etwas schief ging, mit einer langen Fallstrecke. Als

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