Das Bernstein-Teleskop
befand. Eine Quelle gab es nicht, aber in der Welt der Bäume mit den radförmigen Samenkapseln war gerade ein Regenschauer niedergegangen, und so entdeckte Pater Gomez das Fenster und gelangte in die Welt, in die Mary gegangen war.
Die Harpyien
Lyra und Will wachten beide mit einer beklemmenden Angst auf: Sie fühlten sich wie ein zum Tode Verurteilter am Morgen seiner Hinrichtung.
Tialys und Salmakia versorgten ihre Libellen und brachten ihnen Motten, die sie im Schein der anbarischen Glühlampe über der Öltonne gefangen hatten, dazu Fliegen aus Spinnennetzen. Wasser erhielten die Reittiere in einem Zinnteller. Als Lady Salmakia Lyras Gesichtsausdruck sah und neben ihr Pantalaimon, der sich mauseklein an ihre Brust drückte, unterbrach sie ihre Arbeit und kam zu ihr. Will vertrat sich unterdessen draußen vor der Hütte die Beine.
»Ihr könnt euch immer noch anders entscheiden«, sagte Salmakia.
»Nein, das können wir nicht. Wir haben uns schon entschieden«, beharrte Lyra eigensinnig und furchtsam zugleich.
»Und wenn wir nicht zurückkehren?«
»Sie müssen uns nicht begleiten«, bemerkte Lyra.
»Wir werden euch nicht im Stich lassen.«
»Was wäre, wenn Sie beide nicht zurückkehren?«
»Dann hätten wir in Ausübung einer wichtigen Mission unser Leben gelassen.«
Lyra schwieg. Sie hatte die Lady bisher nie richtig angeschaut, aber nun sah sie sie im Schein der Naphthalampe keine Armlänge von sich entfernt auf dem Tisch stehen. Aus ihrem Gesicht sprach eine ruhige Freundlichkeit. Obwohl weder schön noch hübsch, war es doch ein Gesicht, in das man gerne schaute, wenn man krank, traurig oder ängstlich war. Salmakia hatte eine eher tiefe, markante Stimme, in der ein untergründiger Humor mitschwang. Soweit sich Lyra erinnern konnte, hatte ihr nie jemand vor dem Schlafengehen etwas vorgelesen; niemand hatte ihr Lieder gesungen oder Geschichten erzählt und dann nach einem Gutenachtkuss das Licht gelöscht. Doch falls es eine Stimme gäbe, die ihr das Gefühl der Geborgenheit und Liebe geben könnte, dann eine wie die der Lady Salmakia. In diesem Moment keimte der Wunsch in ihr, später einmal ein Kind zu haben und es mit einer solchen Stimme zu trösten und in den Schlaf zu singen.
»Tja«, sagte Lyra, »wenn das so ist.« Mehr sagte sie nicht. Sie schluckte und zuckte nur mit den Achseln.
»Warten wir's einfach ab«, meinte die Lady und wandte sich wieder ab.
Nachdem die kleine Gruppe das trockene Brot gegessen und den bitteren Tee ihrer Gastgeber getrunken hatte, dankte sie ihnen, nahm ihr Gepäck und lief durch die Bretterbudenstadt auf das Seeufer zu. Lyra hielt Ausschau nach ihrem Tod, und tatsächlich, da ging er ein gutes Stück Wegs vor ihr. Er wollte nicht näher kommen, obgleich er sich immer wieder umdrehte und schaute, ob sie ihm folgte. Dunstiger Nebel verdüsterte den Tag. Die Reisenden hatten den Eindruck, eher in der Dämmerung als am helllichten Tag zu marschieren. Aus den Pfützen stiegen Nebelschwaden auf oder hingen wie verzweifelte Liebhaber an den anbarischen Drähten über ihnen. Menschen waren nicht zu sehen, lediglich hin und wieder ein Tod. Nur die Libellen flogen unermüdlich durch die dampfige Luft, als ob sie alles mit unsichtbaren Fäden zusammennähen wollten. Den Reisenden war es eine Freude, sie als einzige Farbtupfer hin und her sausen zu sehen.
Kurz darauf hatten die vier den Rand der Stadt erreicht und folgten nun einem trägen Fluss, der sich durch kahles, kümmerliches Buschwerk schlängelte. Hin und wieder hörten sie ein Krächzen oder ein Platschen, wenn ein am Wasser wohnendes Tier von ihren Schritten aufgeschreckt wurde. Doch das einzige Tier, das sie zu Gesicht bekamen, war eine Kröte, so groß wie Wills Fuß, die sich nur noch mit einem schmerzvollen seitlichen Hinken weiterschleppte, so als hätte sie eine tödliche Verwundung empfangen. Das Tier lag mitten auf dem Weg, versuchte noch wegzukommen und schaute die Menschen an, als wüsste es, dass man ihm den Garaus machen wollte.
»Es wäre eine Erlösung für die Kröte, wenn wir sie töteten«, sagte Tialys.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Lyra. »Vielleicht möchte sie allem Anschein zum Trotz doch noch weiterleben.«
»Wenn wir das Tier töten würden, hieße das, es mitzunehmen«, sagte Will. »Es möchte aber hier bleiben. Ich habe genug getötet. Das Leben in einer schlammigen Pfütze ist sicherlich immer noch besser als der Tod.«
»Aber wenn es Qualen leidet?«, gab Tialys
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