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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Yijing.
    Sie hatte das Buch aus zwei Gründen mitgenommen. Zum einen aus Sentimentalität: Ihr Großvater hatte es ihr geschenkt, und sie hatte als Schulmädchen oft darin gelesen. Der andere Grund war, dass Lyra bei ihrem ersten Besuch in Marys Labor auf das Poster an der Tür mit den Hexagrammen des Yijing gezeigt und gefragt hatte, was das sei. Dann hatte Lyra mit den Bildern auf dem Computerbildschirm kommuniziert und dabei, wie sie behauptete, erfahren, dass Staub auf viele verschiedene Arten zu den Menschen sprach, unter anderem mittels der chinesischen Methode, die diese Symbole verwendete.
    Mary Malone hatte deshalb, als sie in aller Eile gepackt hatte, um ihre Welt zu verlassen und Lyra und Will zu suchen, das »Buch der Wandlungen«, wie es genannt wurde, mitgenommen und außerdem die kleinen Schafgarbenstängel, mit deren Hilfe sie es las. Jetzt war die Zeit dafür gekommen.
    Sie breitete das Seidentuch auf dem Boden aus und begann mit der Prozedur: teilen und zählen, nochmals teilen und zählen und endlich zur Seite legen, wie sie es als Teenager so leidenschaftlich gern getan hatte, seitdem aber nur noch höchst selten. Sie wusste kaum noch, wie es ging, doch bald fiel ihr alles wieder ein, und mit der Erinnerung kam die ruhige Konzentration, die bei der Kommunikation mit den Schatten eine so große Rolle spielte.
    Schließlich gelangte sie zu den Zahlen, die das ihr gegebene Hexagramm verkörperte, eine Zusammenstellung von sechs durchgehenden und durchbrochenen Linien. Sie schlug die Bedeutung nach. Jetzt kam der schwierige Teil, denn das »Buch der Wandlungen« drückte sich sehr rätselhaft aus. Mary las:
     
    Nach dem Gipfel sich wenden
    Um Ernährung und Versorgung
    Bringt Heil.
    Mit scharfen Augen wie ein Tiger
    Umherspähen in unersättlichem Begehren.
     
    Das klang ermutigend. Sie las weiter, folgte den verschlungenen
    Gedankengängen des Kommentars, bis sie zu folgender Stelle gelangte: 
     
    Das Stillestehen ist der Berg, 
    ist ein Nebenweg bedeutet kleine Steine, 
    bedeutet Türen und Öffnungen.
     
    Sie musste raten. Die »Öffnungen« erinnerten sie an das geheimnisvolle Fenster in der Luft, durch das sie in diese Welt gelangt war. Die ersten Worte schienen zu bedeuten, dass sie bergauf gehen sollte.
    Verwirrt und bestärkt zugleich packte sie Buch und Stöckchen wieder ein und machte sich auf den Weg nach oben.
     
     
    Vier Stunden später war Mary verschwitzt und müde. Die Sonne stand tief über dem Horizont, und der holprige Weg, dem sie folgte, war kaum noch zu erkennen und wurde immer beschwerlicher. Langsam kletterte sie zwischen Felsen und kleineren Steinen bergauf. Links von ihr fiel das Gelände ab. In der Ferne lag im Dunst der späten Nachmittagssonne eine Landschaft mit Oliven- und Zitronenbäumen, verwilderten Weingärten und aufgegebenen Windmühlen. Rechts von ihr stieg eine Geröllhalde mit faustgroßen Kieseln bis zu einer senkrechten Felswand aus zerklüftetem Kalkstein an.
    Müde schulterte sie den Rucksack und hob den Fuß für den nächsten Schritt. Doch noch bevor sie das Gewicht verlagerte, hielt sie inne. Vor ihr hatte im Licht etwas geflimmert, und jetzt hatte sie es wieder aus den Augen verloren. Sie schirmte die Augen mit der Hand gegen das blendende Geröllfeld ab und versuchte, das Flimmern wieder zu finden.
    Und da, tatsächlich. Ähnlich einem 3-D-Bild, das plötzlich aus anscheinend willkürlich verteilten farbigen Punkten entsteht, sah sie am oberen Ende des Geröllfelds, vor der Felswand, einen Flecken einer anderen Qualität. Und dann fiel ihr ein, was das Yijing gesagt hatte: ein Nebenweg kleine Steine, Türen und Öffnungen.
    Die Öffnung ließ sich genau wie die in der Sunderland Avenue nur in diesem Licht erkennen. Hätte die Sonne höher gestanden, Mary hätte sie wahrscheinlich übersehen.
    Getrieben von unbezwinglicher Neugier, näherte sie sich dem kleinen Viereck in der Luft. Damals hatte sie sich das Fenster nicht genauer ansehen können, weil sie so schnell wie möglich hatte verschwinden müssen. Jetzt untersuchte die Wissenschaftlerin es eingehend, berührte die Ränder, lief darum herum, um festzustellen, dass es von hinten unsichtbar war, bemerkte den absoluten Unterschied zwischen hüben und drüben und konnte nicht fassen, dass es solche Dinge gab.
    Der Messerträger, der das Fenster ungefähr zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges geöffnet und dann vergessen hatte, es wieder zu schließen, hatte es wenigstens an

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