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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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einer Stelle geöffnet, an der die beiden Welten einander sehr ähnlich waren: in der Nähe einer Felswand. Nur wirkte der Felsen in der neuen Welt anders: kein Kalkstein, sondern Granit, und als Mary in die andere Seite stieg, stand sie nicht am Fuß einer mächtigen Felswand, sondern fast auf dem höchsten Punkt einer niedrigen Erhebung, von der aus man eine riesige Ebene überblickte.
    Auch in dieser Welt war es Abend. Mary setzte sich, atmete tief die Luft ein, entspannte sich und ließ das Wunder in aller Ruhe auf sich wirken.
    Ein weiches, goldenes Licht beschien eine endlose Prärie oder Savanne, der nichts ähnelte, was Mary aus ihrer Welt kannte. Die Ebene war zum größten Teil mit kurzem Gras in unendlich vielen Schattierungen von Braun, Grün, Beige und Gelb bedeckt und floss in sanften Wellen dahin, die in der Abendsonne lange Schatten warfen. Zugleich schien sie von einem Netz von Adern durchzogen zu sein, die wie Flüsse aus hellgrauem Stein aussahen.
    Sodann standen über die Ebene verstreut in Gruppen die größten Bäume, die Mary je gesehen hatte. Sie hatte einmal in Kalifornien eine Konferenz von Hochenergiephysikern besucht und dabei die großartigen Redwoodbäume bestaunt. Doch die Bäume, die sie hier sah, waren mindestens anderthalbmal so hoch. Ihr Laub war dicht und dunkelgrün, und die gewaltigen Stämme leuchteten im Abendlicht goldrot. Und schließlich weideten auf dem Gras Herden von Tieren, die aus der Entfernung nicht genau zu erkennen waren. Etwas an ihren Bewegungen wirkte seltsam, doch hätte Mary nicht sagen können, was.
    Sie war todmüde und hatte außerdem Hunger und Durst. Ganz in der Nähe hörte sie das willkommene Gluckern einer Quelle, und wenig später hatte sie sie gefunden. Aus einer bemoosten Spalte floss ein dünnes Rinnsal plätschernd den Hang hinunter. Dankbar trank sie in tiefen Zügen und füllte ihre Flaschen auf. Dann bereitete sie sich auf die Nacht vor, denn es wurde rasch dunkel.
    Sie wickelte sich in ihren Schlafsack, lehnte sich mit dem Rücken an einen Felsen und aß von dem groben Brot und dem Ziegenkäse. Dann schlief sie fest ein.
     
     
    Als Mary aufwachte, schien ihr die Morgensonne ins Gesicht. Die Luft roch kühl und frisch, und Marys Haare und Schlafsack waren mit lauter winzigen Tautropfen benetzt. Sie blieb noch eine Weile liegen und nahm die Unberührtheit des neuen Tages in sich auf. Ihr war zumute, als sei sie der erste Mensch auf Erden.
    Sie setzte sich auf, gähnte, streckte sich, erschauerte wohlig und wusch sich mit dem kalten Quellwasser. Dann frühstückte sie Brot und Käse und machte sich daran, die Umgebung zu erkunden.
    Hinter der Erhebung, auf der sie die Nacht verbracht hatte, fiel das Gelände sanft ab, um dann wieder anzusteigen. Die beste Aussicht hatte man nach vorn, über die weite Prärie. Die langen Schatten der Bäume zeigten jetzt in Marys Richtung. Vor den Bäumen sah sie Vogelschwärme kreisen. Sie wirkten vor den gewaltigen grünen Kronen so klein wie Staubkörnchen.
    Mary packte ihren Rucksack wieder, dann stieg sie zu dem groben, aber üppig wachsenden Gras der Prärie hinunter. Ihr Ziel war das nächste, sechs bis sieben Kilometer entfernte Wäldchen.
    Das Gras stand kniehoch, und dazwischen wuchsen niedrige Wacholderbüsche, die ihr lediglich bis zu den Knöcheln reichten. Außerdem gab es Blumen, die aussahen wie Mohn, Hahnenfuß und Kornblumen. Sie sprenkelten die weite Ebene mit einer Vielfalt von Farben. Dann sah Mary eine große Biene, so lang wie das obere Glied ihres Daumens. Das Insekt landete auf einer blauen Blume, die unter seinem Gewicht heftig schwankte. Doch als es rückwärts aus den Blütenblättern kroch und weiterflog, entdeckte Mary, dass das Tier gar keine Biene war, denn im nächsten Augenblick war es auf ihrer Hand gelandet, hockte auf ihrem Finger und tupfte mit einem langen, nadeldünnen Schnabel ganz vorsichtig an die Haut. Als es keinen Nektar fand, flog es wieder auf. Es war ein winziger Kolibri. Seine bronzefarbenen Flügel bewegten sich so schnell wie Insektenflügel.
    Wie Biologen Mary beneidet hätten, wenn sie hätten sehen können, was sie hier sah!
    Sie ging weiter. Allmählich näherte sie sich den grasenden Tieren, die sie am Abend zuvor gesehen hatte und deren Bewegungen ihr seltsam vorgekommen waren. Sie erreichten ungefähr die Größe von Rehen oder Antilopen und hatten eine ähnliche Farbe. Aber die Anordnung der Beine ließ Mary irritiert stehen bleiben. Sie waren in

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