Das Bernstein-Teleskop
ein Mann nicht größer als die Spanne einer Hand, bewaffnet mit giftigen Sporen an den Stiefelabsätzen. Er hatte alles mit angehört.
Der Mann aus Bolvangar im Keller war nur mit einer viel zu weiten Hose ohne Gürtel und einem schmutzigen weißen Hemd bekleidet. Mit einer Hand die Hose haltend, mit der anderen seinen Dæmon in Gestalt eines Kaninchens, stand er unter der nackten Glühbirne. Vor ihm saß auf dem einzigen Stuhl Pater MacPhail.
»Dr. Cooper«, begann der Vorsitzende, »setzen Sie sich.«
In der Zelle standen lediglich ein Stuhl sowie ein Holzbett und ein Eimer. Die Stimme des Vorsitzenden hallte unangenehm von den weißen Fliesen an Wänden und Decke zurück.
Dr. Cooper setzte sich auf das Bett, ohne dabei den hageren, grauhaarigen Vorsitzenden aus den Augen zu lassen. Er leckte sich die trockenen Lippen, ungewiss, was für eine Pein ihn diesmal erwartete.
»Sie hätten es also fast geschafft, das Mädchen von seinem Dæmon zu trennen?«, fragte Pater MacPhail.
»Wir hielten es für zwecklos, noch länger zu warten, da das Experiment ja sowieso durchgeführt werden sollte«, antwortete Dr. Cooper zittrig. »Also brachten wir das Mädchen in das Labor, doch wurden wir an der Durchführung der Prozedur gehindert. Allerdings durch Mrs. Coulter persönlich. Sie nahm das Mädchen in ihr Zimmer mit.«
Der Kaninchen-Dæmon des Mannes öffnete seine runden Augen und starrte den Vorsitzenden ängstlich an. Dann schloss er sie wieder und drückte den Kopf an Dr. Coopers Brust.
»Das war sicher eine große Enttäuschung«, sagte Pater MacPhail. Dr. Cooper beeilte sich zu nicken. »Wir hatten die ganze Zeit mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen.«
»Es überrascht mich, dass Sie nicht die Hufe des Disziplinargerichts angefordert haben. Wir haben starke Nerven.«
»Wir - ich - wir glaubten, das Programm sei genehmigt ... Zwar lag die Durchführung bei der Oblations-Behörde, doch wurde uns gesagt, das Geistliche Disziplinargericht habe es abgesegnet. Sonst hätten wir doch nicht daran teilgenommen. Auf gar keinen Fall!«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Pater MacPhail und kam auf den eigentlichen Anlass seines Besuchs im Keller zu sprechen. »Jetzt zu etwas anderem. Wissen Sie, was Lord Asriel mit seinen Forschungen bezweckt? Woher die ungeheure Energie stammte, die er auf Svalbard erzeugte?«
Dr. Cooper schluckte. Es war so still, dass die beiden Männer deutlich den Schweißtropfen hörten, der von seinem Kinn auf den Betonboden fiel.
»Also ... «, begann er, »ein Mitglied unseres Teams meinte, durch die Trennung würde Energie freigesetzt. Sie zu kontrollieren erfordere gewaltige Kräfte, doch könne man sie durch starken anbarischen Strom auslösen, so wie man eine atomare Explosion durch einen konventionellen Sprengsatz erreiche ... Doch niemand nahm den Mann ernst.« Und er fügte hinzu: »Ich hörte ihm nicht zu, weil ich mir sagte, dass seine Überlegungen ohne behördliche Genehmigung genauso gut ketzerische Gedanken sein könnten.«
»Sehr weise. Und dieser Kollege, wo ist er jetzt?«
»Er kam bei dem Überfall ums Leben.«
Der Vorsitzende lächelte. Ein so gütiges Lächeln, dass Dr. Coopers Dæmon an seiner Brust bewusstlos wurde.
»Nur Mut, Dr. Cooper«, sagte Pater MacPhail. »Sie müssen jetzt stark und tapfer sein! Wir stehen vor einer großen Aufgabe, einer gewaltigen Schlacht. Verdienen Sie sich die Vergebung des Allmächtigen, indem Sie rückhaltlos mit uns zusammenarbeiten. Sie dürfen uns nichts verheimlichen, nicht die abwegigsten Vermutungen und Spekulationen, nicht einmal Klatsch. Versuchen Sie sich jetzt bitte ganz genau zu erinnern, was Ihr Kollege gesagt hat. Hat er Experimente durchgeführt? Und Aufzeichnungen hinterlassen? Hat er vielleicht noch jemanden ins Vertrauen gezogen? Was für Geräte verwendete er? Versuchen Sie sich an alles zu erinnern, Dr. Cooper. Sie bekommen Stift und Papier und Zeit, so viel Sie wollen. Dieses Zimmer ist nicht besonders gemütlich. Wir verlegen Sie in ein anderes, das besser geeignet ist. Brauchen Sie vielleicht bestimmte Möbel? Würden Sie lieber an einem Tisch oder an einem richtigen Schreibtisch schreiben? Hätten Sie gern eine Schreibmaschine? Oder diktieren Sie lieber einem Stenografen? Sagen Sie den Wachen, was Sie brauchen, und Sie be kommen es. Aber beschäftigen Sie sich intensiv mit Ihrem Kollegen und seiner Theorie, Dr. Cooper. Sie haben die wichtige Aufgabe, sich daran zu erinnern, was er wusste, oder das
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