Das Bernstein-Teleskop
ist los?«, rief er, als der Engel zitternd neben ihm auftauchte. »Sind wir in Gefahr? Stell dich hinter mich.«
»Baruch ist tot«, schluchzte Balthamos. »Mein lieber Baruch ...« »Seit wann? Wo?«
Doch Balthamos wusste es nicht. Er wusste nur, dass gleichsam die Hälfte von ihm tot war. Er konnte nicht stillhalten, flog wieder hoch und durchkämmte rufend und weinend den Himmel, als wollte er Baruch hinter dieser oder jener Wolke suchen. Dann überkamen ihn wieder Schuldgefühle, er flog nach unten, ermahnte Will, stillzuhalten und sich zu verstecken, und versprach, weiter über ihn zu wachen. Erneut von Kummer überwältigt, gedachte er sämtlicher Gelegenheiten, bei denen Baruch seine Güte und seinen Mut gezeigt hatte, und davon gab es Tausende, Balthamos hatte kein einziges Mal vergessen.
Unter Tränen rief er, eine so großherzige Seele dürfe doch niemals ausgelöscht werden, er habe sich sicher geirrt, und wie der stieg er auf, flog wie von Sinnen hierhin und dorthin und verfluchte die Wolken und die Sterne.
Bis Will schließlich sagte: »Balthamos, komm her.«
Der Engel gehorchte willenlos. »Versuche bitte, leise zu sein«, sagte der Junge. Er fröstelte trotz des Mantels, denn die Nacht war bitterkalt. »Du weißt, dass da draußen Wesen lauern, die uns angreifen, sobald sie etwas hören. Ich kann dich mit meinem Messer beschützen, wenn du in der Nähe bleibst, aber da oben kann ich dir nicht helfen. Und wenn du stirbst, ist das auch mein Ende. Ich brauche dich, Balthamos, du musst mich zu Lyra führen. Baruch war stark - sei du auch stark. Sei wie er, um meinetwillen.«
Zuerst schwieg Balthamos, dann sagte er: »Du hast vollkommen Recht, natürlich muss ich stark sein. Schlaf jetzt, Will, und ich werde wachen. Verlass dich auf mich.«
Der Junge vertraute ihm; er hatte keine Wahl. Wenig später war er wieder eingeschlafen.
Von Tau durchnässt und bis auf die Knochen durchgefroren, wachte er auf. Der Engel stand neben ihm. Die Morgensonne vergoldete die Spitzen des Schilfs und der Sumpfpflanzen. Bevor er noch aufstehen konnte, sagte Balthamos: »Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Ich bleibe Tag und Nacht bei dir, und ich tue es freudigen Herzens, Baruch zuliebe. Ich führe dich zu Lyra, wenn ich kann, und dann euch beide zu Lord Asriel. Seit vielen tausend Jahren lebe ich, und wenn ich nicht getötet werde, lebe ich noch einmal viele tausend Jahre. Aber in dieser ganzen Zeit hat niemand ein solches Verlangen, gut zu sein und Gutes zu tun, in mir geweckt wie Baruch. Ich habe so oft versagt, doch immer war er da, um mich mit seiner Herzensgüte zu erlösen. Jetzt muss ich ohne ihn zurechtkommen. Vielleicht mache ich hin und wieder einen Fehler, aber versuchen will ich es.«
»Baruch wäre stolz auf dich«, sagte Will fröstelnd.
»Soll ich vorausfliegen und auskundschaften, wo wir sind?« Ja. Fliege hoch hinauf und sag mir, wie es hier weitergeht. Sonst laufe ich noch ewig durch diesen Sumpf.«
Balthamos schwang sich in die Luft. Er hatte Will nicht alles gesagt, wovor er sich fürchtete, denn er wollte ihm möglichst keine Angst machen. Doch wusste er, dass der Engel Metatron, der Regent, dem sie mit so knapper Not entkommen waren, sich Wills Gesicht unauslöschlich eingeprägt hatte. Und nicht nur sein Gesicht, sondern alles von ihm, was Engel sehen konnten, darunter Dinge, von denen der Junge selbst nichts wusste, wie den Teil seines Wesens, den Lyra seinen Dæmon genannt hätte.
Will drohte deshalb von Metatron größte Gefahr. Irgendwann musste Balthamos es ihm sagen, aber jetzt noch nicht. Im Augenblick war es zu schwierig.
Will beschloss unterdessen, dass ihm schneller warm würde, wenn er gleich losging und nicht erst Brennholz sammelte und Feuer machte. Er schwang sich also den Rucksack über die Schultern, wickelte den Mantel um sich und den Rucksack und brach in Richtung Süden auf. Der Junge folgte einem morastigen Weg mit tiefen Fahrrinnen und Schlaglöchern. Offenbar kamen auch andere Menschen hier entlang. Doch das flache Gelände dehnte sich nach allen Seiten unendlich weit aus, und er hatte das Gefühl, überhaupt nicht vorwärts zu kommen.
Einige Zeit später, es war inzwischen hell geworden, hörte er Balthamos' Stimme neben sich.
»Einen halben Tagesmarsch vor uns kommt ein breiter Fluss und eine Stadt mit einem Kai, an dem Schiffe anlegen können. Ich bin sehr hoch geflogen und habe gesehen, dass der Fluss über eine große Strecke genau in nordsüdlicher
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