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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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»Sag's mir noch mal.«
    »Will Parry. Aber ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.«
    »Otjez Semjon«, sagte der Priester. Er führte ihn zu einem Stuhl. »Otjez heißt Vater. Ich bin Priester der Heiligen Kirche. Mein Vorname ist Semjon, und mein Vater hieß Boris. Ich heiße also Semjon Borisowitsch. Wie heißt dein Vater?«
    »John Parry.«
    »John ist dasselbe wie Iwan. Du bist also Will Iwanowitsch und ich Vater Semjon Borisowitsch. Woher kommst du, Will Iwanowitsch, und wohin gehst du?«
    »Ich habe mich verlaufen«, antwortete der Junge. »Ich war mit meiner Familie nach Süden unterwegs. Mein Vater ist Soldat, aber er war als Forscher in der Arktis tätig, und dann passierte ein Unglück und wir wurden getrennt. Jetzt gehe ich nach Süden, weil ich weiß, dass wir als Nächstes dorthin wollten.«
    Der Priester breitete die Hände aus. »Soldat? Forscher aus England? Eine so interessante Persönlichkeit hat die dreckigen Straßen von Cholodnoje schon seit Jahrhunderten nicht mehr betreten. Aber wer weiß, wir haben unruhige Zeiten, vielleicht taucht er schon morgen bei uns auf? Du bist selbst ein willkommener Besucher, Will Iwanowitsch, und musst in meinem Haus übernachten, dann können wir miteinander essen und uns unterhalten. Lydia Alexandrowna!«
    Eine ältere Frau trat lautlos ein. Er sprach auf Russisch mit ihr, und sie nickte, holte ein Glas und füllte es mit heißem Tee aus dem Samowar. Dann brachte sie Will das Glas zusammen mit einem kleinen Teller mit Marmelade und einem silbernen Löffel.
    »Danke«, sagte Will.
    »Die Konfitüre ist dazu da, den Tee zu süßen«, erklärte der Priester. »Lydia Alexandrowna hat sie aus Blaubeeren gemacht.«
    Der Tee schmeckte angenehm süß und zugleich bitter, doch Will nippte trotzdem daran. Der Priester beugte sich vor, musterte den Jungen aufmerksam, befühlte seine Hände, um festzustellen, ob ihm kalt war, und strich ihm über die Knie. Um ihn abzulenken, fragte Will, warum die Häuser des Dorfes so schief stünden.
    »Die Erde hat gebebt«, sagte der Priester. »Alles geschieht so, wie in der Apokalypse des Johannes vorausgesagt. Die Flüsse kehren ihren Lauf um ... Der große Strom, in den dieser Fluss mündet, floss früher nach Norden in das Nordpolarmeer. Seit Tausenden von Jahren, seit Gott, der allmächtige Vater, die Welt erschaffen hat, floss er aus dem Gebirge Zentralasiens nach Norden. Doch dann bebte die Erde, es kamen Nebel und Überschwemmungen, alles wurde anders, und der Strom floss eine Woche lang nach Süden und dann wieder nach Norden. Die ganze Welt steht Kopf. Wo warst du zur Zeit des großen Erdbebens?«
    »Weit weg von hier«, antwortete Will. »Ich habe nichts davon mitbekommen. Als der Nebel sich lichtete, hatte ich meine Familie verloren, und ich weiß immer noch nicht, wo ich bin. Du hast mir den Namen des Dorfes gesagt, aber wo liegt dieser Ort? Wo sind wir?« »Bring mir das große Buch auf dem untersten Regalbrett«, sagte Semjon Borisowitsch. »Dann zeige ich es dir.«
    Der Priester zog seinen Stuhl an den Tisch, befeuchtete einen Finger und blätterte die Seiten des Atlas um.
    »Hier«, sagte er und zeigte mit einem schmutzigen Fingernagel auf einen Punkt in Zentralsibirien, weit östlich des Ural. Der Fluss floss, wie der Priester gesagt hatte, vom Norden des gewaltigen Gebirges in Tibet zum Nordpolarmeer. Will betrachtete den Himalaja genauer, aber er fand nichts, was der Skizze Baruchs auch nur entfernt geähnelt hätte.
    Semjon Borisowitsch redete unablässig. Er fragte Will nach Einzelheiten aus seinem Leben, nach seiner Familie und Heimat, und Will, geübt darin, sich zu verstellen, antwortete ihm ausführlich. Nach einer Weile brachte die Haushälterin eine Suppe aus Roter Bete und einen Kanten Schwarzbrot herein. Der Priester sprach ein langes Tischgebet, dann aßen sie.
    »Tja«, sagte er schließlich, »was machen wir jetzt, Will Iwanowitsch? Sollen wir Karten spielen oder uns lieber unterhalten?«
    Er ließ für seinen Gast noch ein Glas Tee aus dem Samowar bringen, und Will nahm es mit gemischten Gefühlen entgegen.
    »Karten spielen kann ich nicht«, sagte er. »Aber ich muss unbedingt weiter. Wenn ich am Fluss bin, glauben Sie, dass ich einen Platz auf einem Dampfer nach Süden bekommen kann?«
    Das breite Gesicht des Priesters verfinsterte sich und er bekreuzigte sich mit einer raschen Bewegung des Handgelenks.
    »In der Stadt sind Unruhen ausgebrochen«, sagte er. »Eine Schwester von Lydia Alexandrowna hat

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