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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Richtung verläuft. Wenn du auf einem Schiff mitfahren könntest, kämst du viel schneller voran.«
    »Wunderbar«, sagte Will begeistert. »Und führt dieser Weg zur Stadt?«
    »Er führt zuerst zu einem Dorf mit einer Kirche, Bauernhöfen und Obstgärten und dann zur Stadt.«
    »Was für eine Sprache man dort wohl spricht? Hoffentlich werde ich nicht eingesperrt, weil ich sie nicht verstehe.«
    »Ich werde als dein Dæmon für dich übersetzen«, versicherte ihm Balthamos, »denn ich habe viele menschliche Sprachen gelernt, und die, die man hier spricht, verstehe ich sehr gut.«
    Will marschierte weiter. Mechanisch setzte er Fuß vor Fuß. Das Gehen strengte ihn an, aber wenigstens tat er etwas, und jeder Schritt brachte ihn Lyra näher.
    Das Dorf machte einen heruntergekommenen Eindruck. Es bestand lediglich aus einigen Holzhäusern, Rentierkoppeln und Hunden, die bellten, als er näher kam. Aus blechernen Kaminrohren quoll dünner Rauch, der über den mit Schindeln gedeckten Dächern hängen blieb. Der Boden zog schwer an seinen Füßen. Offenbar hatte es hier unlängst eine Überschwemmung gegeben. Die Mauern waren einen Meter hoch mit Schlamm verklebt, und gesplitterte Balken und lose herunterhängende Wellbleche zeigten an, wo die Flut Schuppen, Veranden und Nebengebäude mitgerissen hatte.
    Seltsamer erschien ihm allerdings etwas ganz anderes. Zuerst glaubte Will, sein Gleichgewichtssinn sei gestört. Ein- oder zweimal stolperte er sogar. Denn die Häuser hingen alle schief, alle in dieselbe Richtung, um zwei bis drei Grad aus der Senkrechten verschoben. Besonders schlimm sah das Dach der kleinen Kirche aus. Hatte hier ein Erdbeben gewütet?
    Hunde kläfften ihn hysterisch an, wagten aber nicht, näher zu kommen. Balthamos hatte sich in einen Dæmon in Gestalt eines großen schneeweißen Hundes mit schwarzen Augen, dickem Fell und eingerolltem Schwanz verwandelt und hielt die anderen Hunde mit wütend gefletschten Zähnen in Schach. Sie waren mager und struppig, und die wenigen Rentiere, die Will entdeckte, wirkten krank und müde.
    Auf dem Dorfplatz blieb er stehen und sah sich um. In welche Richtung sollte er gehen? Vor ihm tauchten einige Männer auf und starrten ihn an. Es waren die ersten Menschen, denen er in Lyras Welt begegnete. Sie trugen schwere Filzmäntel, dreckige Stiefel und Pelzmützen und machten einen abweisenden Eindruck.
    Der weiße Hund verwandelte sich in einen Spatzen und flog auf Wills Schulter. Niemand wunderte sich darüber. Die Männer hatten alle Dæmonen, meist Hunde. Das war in dieser Welt nichts Ungewöhnliches. »Geh weiter«, flüsterte Balthamos auf seiner Schulter. »Sieh ihnen nicht in die Augen und halte den Kopf gesenkt. Das gebietet hier die Achtung.«
    Der Junge lief weiter und machte von seiner größten Fähigkeit Gebrauch, der Fähigkeit, nicht aufzufallen. Als er an den Männern vorbeikam, interessierten die sich schon nicht mehr für ihn. Doch dann ging im größten Haus an der Straße eine Tür auf und eine laute Stimme rief etwas.
    »Der Priester«, sagte Balthamos leise. »Sei höflich zu ihm. Bleib stehen und verbeuge dich.«
    Will tat wie geheißen. Der korpulente Priester hatte einen grauen Bart und trug eine schwarze Soutane. Auf seiner Schulter saß sein Dæmon, eine Krähe. Er musterte Will eingehend und winkte ihn heran. Der Junge ging zu ihm hin und verbeugte sich noch einmal. Der Priester sagte etwas, und Balthamos murmelte: »Er fragt, woher du kommst. Sag, was immer du willst.«
    »Ich spreche Englisch«, sagte Will langsam und deutlich. »Eine andere Sprache kann ich nicht.«
    »Ah, Englisch!«, rief der Priester erfreut in derselben Sprache. »Na, junger Mann, willkommen in unserem Dorf, in unserem aus dem Lot geratenen Cholodnoje! Wie heißt du denn und wohin bist du unterwegs?«
    »Ich heiße Will und will nach Süden. Ich habe meine Angehörigen verloren und versuche sie zu finden.«
    »Dann musst du reinkommen und dich stärken«, sagte der Priester in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Er legte einen schweren Arm um Wills Schulter und zog ihn durch die Tür.
    Sein Krähen-Dæmon interessierte sich lebhaft für Balthamos. Doch der Engel reagierte geschickt. Er verwandelte sich in eine Maus und kroch wie aus Schüchternheit in Wills Hemd.
    Der Priester führte ihn in eine von Tabakrauch geschwängerte Stube. Auf einem kleinen Tischchen dampfte ein gusseiserner Samowar vor sich hin.
    »Wie heißt du gleich?«, fragte der Priester.

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