Das Bernstein-Teleskop
in Richtung auf die Gebirgskette, wohin sich Iorek nach Auskunft des Alethiometers zurückgezogen hatte. Nun begann ein Tag, an dem lang und hart marschiert werden musste: ein Leichtes für Will, aber eine Qual für Lyra, deren Beine durch den langen Schlaf weich und schwach geworden waren. Doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen als zuzugeben, wie schlecht sie sich fühlte: Hinkend, die Lippen aufeinander gepresst und zitternd hielt sie doch Schritt mit Will und sagte zu allem kein Wort. Nur bei der Rast gegen Mittag erlaubte sie sich einen Seufzer, aber auch nur, als Will kurz weggegangen war, um sich zu erleichtern.
Lady Salmakia sagte zu ihr: »Ruh dich aus. Es ist keine Schande, erschöpft zu sein.«
»Aber ich möchte Will nicht enttäuschen! Ich will nicht, dass er denkt, ich sei schwach und hielte ihn nur auf.«
»Das wäre das Letzte, was er denken würde.«
»Das wissen Sie doch nicht«, sagte Lyra grob. »Sie kennen ihn genauso wenig, wie Sie mich kennen.«
»Ich merke jedenfalls, wenn jemand unverschämt zu mir spricht«, versetzte die Lady trocken. »Tu, was ich dir sage, und ruhe dich aus. Spar dir deine Kräfte für den weiteren Marsch.«
Lyra hätte gern aufbegehrt, doch die Sporen der Lady glänzten im Sonnenlicht, und so besann sie sich eines Besseren.
Unterdessen öffnete der Chevalier den Kasten mit dem Magnetstein Resonator. Lyras Neugier gewann die Oberhand über ihren Groll, und sie schaute zu, was der winzige Spion da trieb.
Der Apparat ähnelte einem Bleistiftstummel aus mattem, schwarzgrauem Stein, der auf einem hölzernen Ständer ruhte. Der Chevalier strich wie ein Geiger mit einem winzigen Bogen über das eine Ende, während er mit den Fingern der anderen Hand an verschiedenen Punkten der Oberfläche Druck ausübte. Die Stellen waren nicht markiert, so dass es schien, als drückte er aufs Geratewohl, doch aus der Anspannung seiner Miene und der Flüssigkeit seiner Bewegungen entnahm Lyra, dass es sich dabei um eine kunstfertige und schwierige Tätigkeit handelte, die sich durchaus mit dem Befragen des Alethiometers vergleichen ließ.
Nach einigen Minuten legte der Spion den Bogen beiseite und setzte ein Paar Kopfhörer auf, deren Muscheln nicht größer als der Nagel von Lyras kleinem Finger waren. Dann wickelte er ein Ende des Drahtes um einen Wirbel an einem Ende des Magnetsteins und führte den restlichen Draht zu einem Wirbel am anderen Ende und befestigte ihn dort. Durch Drehen an den beiden Wirbeln änderte sich die Spannung des Drahtes, woraus der Chevalier offenbar eine Antwort auf die von ihm gesendete Botschaft entnehmen konnte. »Wie funktioniert das?«, fragte Lyra, als er fertig war.
Tialys schaute sie an, als wollte er ergründen, ob sie wirklich interessiert war. Dann sagte er: »Eure Wissenschaftler, wie nennt ihr sie doch gleich, eure Experimentaltheologen, kennen das Phänomen der Quantenaffinität. Darunter versteht man zwei Teilchen, die nur gemeinsame Eigenschaften besitzen, so dass, ganz gleich, was mit dem einen geschieht, dem anderen zur gleichen Zeit dasselbe widerfährt, wie weit beide Teilchen auch voneinander entfernt sein mögen. In unserer Welt gibt es ein Verfahren, die Teilchen eines gewöhnlichen Magnetsteins entsprechend zu behandeln und dann zu spalten, so dass beide Hälften in einem Schwingungsverhältnis stehen. Das Gegenstück zu diesem Magnetstein befindet sich bei Lord Roke, unserem Vorgesetzten. Wenn ich mit meinem Bogen hierauf spiele, gibt die andere Hälfte genau dieselben Töne wieder, und so können wir uns miteinander verständigen.«
Der Chevalier legte alles beiseite und rief etwas zur Lady hinüber. Diese kam zu ihm und dann gingen sie ein Stück spazieren und sprachen miteinander. Die beiden unterhielten sich zu leise, als dass Lyra etwas hätte verstehen können, obwohl Pantalaimon die Gestalt einer Eule angenommen hatte und ihre großen Ohren in Richtung auf das Paar gedreht hielt.
Bald darauf kam Will zurück. Sie brachen wieder auf, marschierten nun aber langsamer, da sich der Tag dem Ende neigte und der Weg steiler wurde. Die Schneelinie rückte immer näher.
Sie rasteten noch einmal am Anfang eines Felsentals, denn nun bemerkte auch Will, dass Lyra am Ende ihrer Kräfte war: Sie hinkte deutlich und hatte alle Farbe aus dem Gesicht verloren.
»Zeig mir deine Füße«, sagte Will. »Wenn sie wund sind, habe ich eine Salbe dafür.«
Sie waren tatsächlich wund, sogar sehr. So ließ Lyra sich von ihm die
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