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Das Bernstein-Teleskop

Das Bernstein-Teleskop

Titel: Das Bernstein-Teleskop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Iorek?«
    »Zeig sie mir.«
    Will schüttete alle Stücke aus der Lederscheide und legte sie auf dem felsigen Boden so aus, dass sie alle an ihrem Platz waren und er sehen konnte, dass nichts fehlte. Lyra hielt einen brennenden Ast hoch, und im Schein der Flamme beugte sich Iorek vor und betrachtete jedes Stück aus der Nähe. Er nahm die Teile nacheinander vorsichtig in seine schweren Pranken, hob sie, drehte sie in diese und jene Richtung und untersuchte die Bruchstellen. Will bewunderte die Gewandtheit dieser mächtigen Tatzen.
    Dann setzte sich Iorek zurück und sein Kopf tauchte wie der hoch in den Schatten ein.
    »Ja«, sagte er und beantwortete damit genau Wills Frage, nicht mehr und nicht weniger.
    Lyra, die begriffen hatte, was er meinte, fragte: »Ja, aber wirst du es auch tatsächlich tun, Iorek? Du glaubst gar nicht, wie wichtig das ist wenn wir das Messer nicht repariert bekommen, geraten wir in schreckliche Bedrängnis, und nicht nur wir -«
    »Ich mag dieses Messer nicht«, gestand Iorek. »Ich fürchte das, was man damit machen kann. Noch nie habe ich so etwas Gefährliches in der Hand gehalten. Die meisten tödlichen Waffen sind Spielzeug verglichen mit diesem Messer, das unermesslichen Schaden anrichten kann. Es wäre unendlich viel besser gewesen, wenn es nie geschmiedet worden wäre.« 
    »Aber mit ihm -«, begann Will.
    Iorek ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sondern fuhr fort: »Mit ihm kann man Unerhörtes tun. Was du hingegen nicht weißt, ist, dass das Messer auch aus eigenem Antrieb handelt. Deine Absichten mögen ja lauter sein, aber das Messer hat seinen eigenen Willen.«
    »Wie ist das möglich?«, fragte Will.
    »Ein Werkzeug findet seine Bestimmung in dem, was es tut. Ein Hammer ist dazu da, zu schlagen, ein Schraubstock, Werkstücke festzuhalten, ein Hebel, Lasten zu heben. Ihr Wesen besteht in dem Zweck, zu dem sie angefertigt wurden. Bisweilen geschieht es aber, dass ein Werkzeug noch mehr Zwecken dient, als du ahnst. Bisweilen geschieht durch dein Tun etwas, was den Absichten des Messers entgegenkommt, ohne dass du davon erfährst. Kannst du die Spitze dieses Messers erkennen?«
    »Nein«, räumte Will ein, denn das Messer verjüngte sich in eine so feine Spitze, die mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen war. 
    »Wie kannst du dann alles wissen, was es tut?«
    »Das kann ich nicht. Aber ich muss es weiterhin benutzen und alles in meiner Macht Stehende tun, um damit Gutes zu bewirken. Wenn ich nichts täte, wäre ich zu nichts nütze, schlimmer noch, ich würde mich schuldig machen.«
    Lyra folgte angespannt dem Gespräch der beiden, und als sie sah, dass Iorek immer noch unentschlossen war, sagte sie: »Iorek, du weißt doch, wie böse die Menschen in Bolvangar waren. Wenn wir nicht siegen, dann werden diese Leute ihr schlimmes Treiben ungestraft fortsetzen. Außerdem, wenn wir das Messer nicht hätten, würden sie es sich vermutlich verschaffen. Wir wussten nichts von dieser Klinge, als ich dir zum ersten Mal begegnete, Iorek, und auch sonst ahnte niemand etwas davon. Aber nun, da wir von der Macht dieses Messers wissen, müssen wir sie auch einsetzen - wir können nicht darauf verzichten. Das wäre eine unverzeihliche Schwäche und es wäre auch falsch, denn es liefe darauf hinaus, dass wir den anderen alles überlassen und sagen: Da, nehmt es, wir hindern euch nicht daran. Gut, wir wissen nicht, was dieses Messer alles kann, aber ich brauche nur das Alethiometer befragen, dann erfahren wir es. Dann hätten wir auch eine genaue Vorstellung davon, statt bloß zu raten und uns zu fürchten.« 
    Will wollte gar nicht seinen eigenen wichtigsten Grund nennen: Wenn er das Messer nicht mehr benutzen könnte, würde er nie mehr nach Hause zurückkehren, nie mehr seine Mutter sehen. Sie würde nie erfahren, was geschehen war, und müsste glauben, er habe sie im Stich gelassen, wie es sein Vater getan hatte. Dabei war das Messer die unmittelbare Ursache dafür, dass Vater und Sohn sie verlassen hatten. Er musste unbedingt mit Hilfe des Messers in ihre Welt zurückkehren, sonst könnte er sich das nie verzeihen.
    Iorek Byrnison schwieg lange Zeit und starrte in die Dunkelheit. Dann erhob er sich langsam, begab sich zum Höhlenausgang und blickte in den Nachthimmel. Manche Sterne kannte er aus dem hohen Norden, andere waren ihm unbekannt. Hinter ihm wendete Lyra den Braten über dem Feuer und Will schaute prüfend nach seinen Wunden, ob sie auch heilten. Tialys und Salmakia saßen

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