Das Bernsteinerbe
Fremde.
»Wie schön, Euch endlich kennenzulernen.« Unverkennbar klang der flandrische Akzent in ihren Worten an, dennoch war es eine angenehme Stimme. Magdalena erwiderte höflich den Gruß, auch wenn sie sich fragte, warum die Unbekannte nicht dem Brauch gemäß ihren Besuch per Brief angekündigt hatte. Noch dazu, wo sie ungewöhnlich spät im Jahr an den Pregel gereist war. Kaum ein anderer Kaufmann aus so weiter Entfernung befand sich noch in diesen Gefilden.
»Unser lieber Freund Helmbrecht hat mir schon viel von Euch erzählt«, fuhr Marietta Leuwenhoeck in ihrem prägnanten Tonfall fort und warf die langen blonden Haare nach hinten.
Der erste Eindruck hatte getäuscht. Bei näherer Betrachtung war Magdalena sich sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Ein winziger Hut in einem etwas helleren Blauton als die übrige Kleidung, verziert mit einem duftigen Spitzenschleier, bekrönte die weißgold schimmernde Pracht auf Mariettas Haupt.
»Der Ruf Eures vortrefflichen Bernsteins, liebe Magdalena, dringt seit Jahren schon bis zu uns nach Flandern. Doch Ihr besitzt, wie ich höre, auch als Wundärztin einen ausgezeichneten Leumund. Gerade die Bernsteinessenz nach Eurem Rezept wird bis zu uns nach Flandern hinunter in den höchsten Tönen gepriesen. Bei den eigenartigsten Beschwerden soll sie wahre Wunder bewirken.«
»So?« Verwundert musterte Magdalena die schlanke Gestalt in dem ungewöhnlichen Blau weiter. Nichts in der Mimik der hochaufgeschossenen Frau verriet, warum sie ausgerechnet diese Rezeptur so hervorhob. Gleichwohl entging Magdalena nicht, wie sehr sie um Helmbrechts Aufmerksamkeit buhlte.
Noch schien er das kaum wahrzunehmen und gab sich ihr gegenüber genauso unbekümmert wie den anderen Zunftgenossen. Die aber ahnten bereits, welche Spannung sich zwischen der flandrischen Kauffrau und Magdalena ausbreitete, erst recht, als die Fremde mit der Erwähnung der Bernsteinessenz ein heikles Thema ansprach. Magdalena warf den umstehenden Kaufleuten beschwörende Blicke zu, bis diese sich zögerlich wieder ihren eigenen Gesprächen zuwandten. Gewiss gärte die Sache mit Gerkes Tod und ihrer Bernsteinessenz weiterhin unter der Oberfläche. Insgeheim quälte Magdalena außerdem die Frage, ob Marietta die Essenz wirklich zufällig erwähnt hatte. Kurz streifte ihr Blick Grünheide. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass auch er nicht an solche Zufälle glaubte. Ermutigend zwinkerte er ihr zu. Dankbar nickte sie.
Helmbrecht allerdings begriff nichts. Aufgekratzt suchte er die beiden Frauen weiter miteinander ins Gespräch zu bringen.
»Nicht nur Magdalenas Bernsteinessenz bewirkt wahre Wunder«, erklärte er beflissen. »Sie handelt noch mit einer Fülle anderer vielversprechender Rezepturen. Allerdings rückt sie die genauen Zusammensetzungen nicht heraus. Ihre Tochter Carlotta verfügt obendrein über die besondere Gabe, Menschen von ihren Leiden zu befreien und zielsicher mit der richtigen Medizin zu behandeln. Das Auflegen der Hand genügt ihr, um die schlimmsten Schmerzen vergessen zu machen. Unbedingt müsst Ihr in die Langgasse gehen, liebe Marietta, und Euch persönlich von den Kenntnissen und Fähigkeiten der beiden Frauen überzeugen.«
Ein leises Raunen unter den Anwesenden begleitete seine Worte. Zu ihrem Entsetzen meinte Magdalena, mehrmals Gerkes Namen murmeln zu hören. Die sich verfinsternden Gesichter schienen das zu bestätigen. Grünheide räusperte sich laut, und er scharrte mit der Stiefelspitze über den Dielenboden, um Helmbrecht in seinen Ausführungen zu bremsen. Der aber war viel zu sehr damit beschäftigt, Marietta für Magdalena zu begeistern, als dass er etwas von den Gesten wahrgenommen hätte.
»Wie kommt es, dass Ihr um diese Zeit noch auf Reisen seid?«, fragte Magdalena die großgewachsene Frau aus Flandern, die selbst die meisten anwesenden Männer überragte. »Kaufleute aus Euren Gefilden pflegen im November längst an den heimischen Börsen zu handeln. Wenn Ihr Pech habt, wird Eure Rückreise sehr beschwerlich. Das Haff friert mitunter schon im Dezember zu. Über Land wird die Reise nicht minder schwierig, wenn man den rechten Zeitpunkt verpasst. Die Schneestürme haben dieses Jahr sehr früh und unerwartet stark begonnen. Das kann die nächsten Wochen nur schlimmer werden.«
»Das Wetter ist derzeit wohl das Geringste, was mich bei meiner Rückkehr nach Flandern aufhalten kann«, erwiderte Marietta und erlaubte sich ein vielsagendes Lächeln.
»Mir ist kaum
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