Das Bernsteinerbe
Doch nicht erst seit Grünheides Andeutungen misstraute Magdalena der unbeschwerten Stimmung. Auf der linken Straßenseite rückte die Fleischbänkenstraße in den Blick. Die ersten Kaufleute hatten ihr zweites Frühstück beendet und standen an der Ecke zur Langgasse, um gemeinsam zur Börse zu gehen. Zu Magdalenas Erleichterung machte Grünheide keinerlei Anstalten, sich den Zunftgenossen anzuschließen. Grünheides Gegenwart dagegen erwies sich als eine Art Schutzschild. Mehr als einmal meinte sie, abschätzige, wenn nicht gar böse Blicke auf sich zu spüren. So mancher Kneiphofer Bürger zürnte ihr. Gelegentlich meinte sie das Wort »Bernsteinessenz« aufzuschnappen. Das versetzte ihr einen Stich. Es half nichts: Ihr Bemühen um Verdrängen war vergebens, sie entkam dem Übel nicht.
»Sagt«, wandte sie sich deshalb entschlossen an Grünheide, »Ihr wart nach Gerkes Beerdigung gestern sicher noch beim Leichenschmaus.«
»Natürlich«, erwiderte er und zupfte sich den Bart. »Man hat Euch bei der Beerdigung übrigens schmerzlich vermisst, Verehrteste.«
»Oh«, entfuhr es ihr, überrascht, dass ihre Abwesenheit tatsächlich aufgefallen war. »Es war mir nicht wohl.«
Kaum ausgesprochen, schämte sie sich bereits der Lüge.
»Keine Sorge, Teuerste«, entgegnete er. »Ich persönlich verstehe sehr gut, wie unerträglich solche Dinge selbst einige Jahre nach dem Tod Eures Gemahls noch für Euch sind.«
»Wie geht es der armen Dorothea? Habt Ihr sie gesprochen?«, fragte sie. »Mir war, als träfe sie der Tod des geliebten Gemahls ausgesprochen hart.«
»Ihr wisst selbst am besten, wie schlimm es ist, so unverhofft den Ehegatten zu verlieren«, vermied Grünheide eine direkte Antwort. »Umso wichtiger ist es für sie, die rege Anteilnahme der Mitbürger und vor allem der engsten Zunftgenossen zu erfahren. Gerade an Eurer Gegenwart wäre ihr viel gelegen, hat sie mir anvertraut. Sie meint, jetzt, da Ihr beide in derselben Lage seid, also ganz ohne männlichen Beistand das Kontor weiterführt, könntet Ihr einander beistehen.«
»Wir sind nicht die einzigen Kaufmannswitwen in Königsberg, nicht einmal hier im Kneiphof«, wandte sie ein. Im Stillen fragte sie sich, ob Grünheide weniger Dorotheas als seinen eigenen Wunsch damit vorbrachte. »Bislang waren Dorothea Gerke und ich keine engen Freundinnen, warum sollten wir es künftig sein?«
»Ich kann verstehen, wenn Ihr zögert, zu ihr zu gehen. Dennoch rate ich Euch, nicht voreilig Dorotheas ausgestreckte Hand zurückzuweisen.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?« Magdalenas Stimme tönte erschreckend schrill über das Geschrei der Händler und Hausfrauen hinweg, die vom nahen Junkergarten in die Langgasse herüberschlenderten. Grünheide antwortete nicht.
In Höhe des Wirtshauses zum Grünen Baum bildete sich eine größere Ansammlung. Grünheide musste ihr von der Seite weichen. Eine Handvoll Kräuterweiber, die um den besten Verkaufsplatz für ihre üppig gefüllten Körbe buhlten, versperrte ihm den Weg. Magdalena drängte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite durch das Gewühl. Vom Junkergarten zog ein aufdringlicher Geruch herüber, auch das Wasser des Alten Pregels roch brackig. Der Ostwind flaute wieder auf. Das milde Wetter würde sich bald schon als kurzes Zwischenspiel entpuppen.
Am Grünen Tor wurde die Post erwartet. Magdalena reckte sich auf die Zehenspitzen, um Grünheide inmitten der Umstehenden wiederzufinden. Viel zu viele Männer trugen die gleichen schwarzen Spitzhüte und dunklen Wollumhänge. Im Stillen verfluchte sie die Eitelkeit ihrer Mitbürger, beim Schneider auf demselben Schnitt zu bestehen. Bald war keiner mehr vom anderen zu unterscheiden. Endlich erspähte sie den Zunftgenossen. Sein grobschlächtiges Gesicht und die übertriebene Gestik hoben ihn aus der Masse heraus. Winkend kam er auf sie zu und zog sie ein Stück abseits.
»Verehrte Frau Grohnert«, hub er noch einmal förmlich an. »Auf Gerkes Beerdigung hat man Euch wirklich schmerzlich vermisst. Gerade weil Gerke Euch in den letzten Wochen seines Lebens sehr vertraut hat, sogar mehr als anderen aus dem Kneiphof vertraut hat«, betonte er mit einem vieldeutigen Seitenblick, »ist es aufgefallen, dass Ihr nicht gekommen seid, um von ihm Abschied zu nehmen. Auch Eure Bernsteinessenz wurde mehrfach erwähnt. Einzig auf die hat er bis zuletzt geschworen, heißt es. Wart Ihr nicht auch bei ihm, bis der letzte Funke Leben aus ihm gewichen ist? Die arme Dorothea hat das
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