Das Bernsteinerbe
in den vergangenen zehn Tagen überhaupt in Ruhe sprechen, noch ihn auch nur andeutungsweise um die Übermittlung eines Briefes an Tante Adelaide bitten können, geschweige denn, Näheres über seine wahren Gefühle für Magdalena erfahren. Zuletzt hatte sie erst gestern wieder vergeblich versucht, ihn im Grünen Baum anzutreffen, um dort unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Wenigstens hatte sie dank Lina nun eine Erklärung dafür, wo er gesteckt hatte. Zum Glück ließ Mathias sich schon seit Tagen nicht mehr blicken. Möglicherweise gehörte er zu den Kurfürstlichen, die für die Bewachung des festgesetzten Schöppenmeisters Roth abgestellt waren. Nach allem, was man hörte, würde dies noch lange dauern. Das verschaffte ihr zumindest etwas Zeit.
Vorsichtig setzte sie den Fuß auf die erste Stufe. Sorgsam hatte jemand den frischen Schnee darauf beiseitegefegt. Die Striche mit dem Reisigbesen hatten deutliche Spuren auf dem dunklen Steinboden hinterlassen.
»Gott zum Gruße, verehrte Carlotta!« Eine barsche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Am obersten Treppenabsatz stand Apotheker Heydrich, den schwarzen Spitzhut in der Hand. Sein kahler Schädel glänzte im Sonnenlicht, zart umrankt von einem lichten weißen Haarkranz.
»Sucht Ihr mich?«, fragte er vergnügt und zwirbelte die Enden seines ebenfalls in Ehren weißgewordenen Oberlippenbarts. Am Kinn ragte ein Ziegenbart keck nach vorn. »Das trifft sich gut. Ich wollte schon nach Euch schicken lassen. Seit Tagen erwarte ich Euren Besuch in meinem Laboratorium. Traut Ihr Euch nicht mehr zu mir?« Er beugte sich vor und fügte leise hinzu: »Keine Sorge, meine Liebe: Ich bin der Letzte, der etwas auf das Gerede über die Tropfen Eurer Mutter gibt.«
»Welches Gerede? Über welche Tropfen meiner Mutter? Wovon sprecht Ihr?« Verwirrt sah sie ihn an. Er stutzte, verzog dann aber den Mund zu einem Lächeln. »Ach, vergesst das alles. Es ist nichts! Wollt Ihr nicht mit mir kommen? Sonst hattet Ihr es immer so eilig damit, diese geheimnisvolle Wundersalbe zu mischen. Mir ist eine hervorragende Idee gekommen, was wir noch ausprobieren sollten.«
Schwungvoll setzte er den Hut wieder auf und trippelte mit seinen auffallend kleinen Füßen die Stufen hinunter. Die bunten Schluppen an seiner Rheingrafenhose flatterten bei jedem Schritt, die goldenen Schnallen an seinen Schuhen blinkten grell. Lässig strich er die Schöße seines Rocks nach hinten. Bei ihr angekommen, bot er ihr den Arm. Ihr blieb nichts anderes, als stumm zu nicken und seiner Einladung zu folgen. Letztlich kam es ihr nicht ungelegen, sich auf diese Weise ablenken zu lassen. Es verschaffte ihr eine kurze Verschnaufpause, bevor sie abermals versuchte, Helmbrecht irgendwo alleine anzutreffen und auf ihr Begehren vertraulich anzusprechen.
»Was habt Ihr mir noch an Ideen für die Wundersalbe zu bieten?«, fragte sie mehr aus Höflichkeit denn aus echtem Interesse, während sie an seiner Seite durch die Goldene Pongasse zur Magistergasse hinüberschritt.
Sie musste sich zwingen, ihm zuzuhören und Helmbrecht mit seiner rätselhaften Blonden für eine Weile zu vergessen. Zum Glück begegneten ihnen die ersten Kaufleute auf dem Weg zur Börse. Der Apotheker wurde nicht müde, grüßend den Hut zu lupfen. Darüber entging ihm Carlottas Zerstreutheit.
»Mir scheint«, hub er mehrmals an, um sich gleich wieder für einen Gruß zu unterbrechen, bis er an der Ecke zur Hofgasse den Satz endlich vollenden konnte, »wir haben zwar seit einigen Wochen gut und gern alle Zutaten beieinander. Doch das allein macht das Geheimnis der Salbe nicht aus. Es kommt wohl darauf an, zuerst die sechs verschiedenen Gummiarten nicht nur zweimal in Essig zu kochen, sondern dazwischen auch einmal sorgsam durch ein Tuch zu streichen.«
»Ja, ja«, bestätigte Carlotta, die mit ihren Gedanken immer noch anderswo weilte, »das ist sicherlich wichtig. Doch daran allein wird es auch nicht liegen, dass uns die Salbe immer noch nicht gelingt. Die richtige Beschaffenheit muss man nach jedem Kochvorgang überprüfen.«
»Auf nichts anderes wollte ich hinaus«, erwiderte Heydrich ein wenig pikiert. »Ihr seid heute wohl nicht so recht bei der Sache. Wir können den Besuch in meinem Laboratorium gern verschieben. Gewiss habt Ihr Wichtigeres zu erledigen. Es war einfach vermessen von mir, Euch mit meinen Dingen so rücksichtslos zu behelligen.«
»Nein, es war allein mein Fehler«, beeilte sich Carlotta, ihm zu versichern, und schenkte
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