Das Bernsteinerbe
Kneiphof hat sie sich schon vorgestellt. Wer weiß, vielleicht kommt sie im nächsten Frühjahr als Helmbrechts Ehefrau hierher zurück.«
»Was?« Lina erschrak.
»Was hast du?«, fragte der Fremde.
Lina sprang auf und stürzte zu Steutner. Ohne darauf zu achten, ob Helmbrecht auf sie aufmerksam wurde, zerrte sie den Schreiber am Arm. »Wir müssen weg von hier«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich muss sofort zurück in die Langgasse. Dieser Helmbrecht spielt ein doppeltes Spiel. Er umwirbt nicht nur unsere gute Patronin, sondern will auch diese blonde Frau da vorn heiraten.«
»Was willst du tun?« Humbert rührte sich nicht vom Fleck. »Du kannst wohl kaum zur Grohnert laufen und erzählen, du hättest gerade Helmbrecht im Grafenkrug mit einer fremden Frau gesehen. Was, glaubst du, sagt sie dazu, dass du heimlich aus dem Haus gelaufen bist und mich getroffen hast?«
Lina erstarrte. In all der Aufregung um Helmbrecht war ihr das völlig entfallen.
»Das wird sich schon alles regeln. Lass das meine Sorge sein.« Ehe Steutner Einwände erheben konnte, schlang sie sich den Schal um Gesicht und Hals, bis nur noch ein schmaler Schlitz für die Augen frei blieb. So hoffte sie, unbemerkt an Helmbrecht vorbei nach draußen zu gelangen. Ob Steutner ihr folgte, war ihr einerlei.
In Windeseile rannte sie die breite Straße der Vorstadt hinunter. Das leichte Schneetreiben des frühen Nachmittags hatte sich in ein dichtes Schneegestöber im dämmrigen Licht des nahenden Abends verwandelt. An der Brücke zum Grünen Tor stauten sich die Menschen, die noch vor Anbruch der Nacht Einlass im Kneiphof begehrten. Auch einige Wagen und Karren reihten sich dort auf. Lina war des Wartens schnell überdrüssig und stahl sich unauffällig durch die Menge nach vorn. Im Schutz eines Fuhrwerks gelangte sie an den beiden Wachposten vorbei. Auch jenseits des Tores blieb sie in Eile, bis sie endlich atemlos das entgegengesetzte Ende der Langgasse erreichte. Gerade wollte sie den Klopfer gegen die Eingangstür des Singeknecht’schen Anwesens fallen lassen, da fiel ihr ein, wie töricht das wäre. Steutner hatte recht: Niemand durfte von ihrem nachmittäglichen Ausflug erfahren! Wie aber wollte sie unbemerkt hineinschlüpfen? Früher als erwartet stand Hedwig womöglich in der Küche unten in der Diele und bereitete mit Milla zusammen das Abendessen. O Gott! Längst musste die Alte ihr Fehlen bemerkt haben.
»Wo kommst du denn her?«
Lina fuhr herum. Einen Moment meinte sie, im Erdboden versinken zu müssen. Dann aber brachte sie die Stimme und das Gesicht vor ihr zusammen. Es war nicht Magdalena, wie sie befürchtet hatte, sondern Carlotta. Die Stimmen der beiden Grohnert-Damen klangen erschreckend ähnlich.
»Ich-ich-ich m-musste sch-schnell noch etwas erledigen«, stammelte sie unbeholfen und schalt sich insgeheim einen Dummkopf. So, wie sie sich verhielt, durchschaute Carlotta sie gleich. Das wissende Lächeln auf ihrem selbst im November von Sommersprossen übersäten Gesicht bestätigte das.
»Ich schätze, meine Mutter und Hedwig sollen nichts davon mitbekommen.« Linas schüchternes Nicken war ihr Bestätigung genug. »Das trifft sich. Mir passt es auch gut, nicht allein zurückzukehren. Falls dich also jemand fragt, hast du mich vorhin zu Caspar Pantzer begleitet, um ihm den Verband zu wechseln. Es ist nicht gut, dass ich dort allein hingehe.«
Folgsam nickte Lina. Ihr war jede Ausrede recht, solange sie unbeschadet an Hedwig vorbeikam. Schweigend folgte sie Carlotta ins Haus, genoss sogar den erstaunten Blick der Köchin, die tatsächlich bereits eifrig in der Küche mit den Tellern klapperte und Milla zum Brotschneiden anhielt. Offenbar war es ihr noch immer ernst mit der Einstellung, an einem Schwendtag nichts Neues zu beginnen. Also würde auch das Abendbrot aus Resten des Vortags bestehen.
»Lina und ich waren noch einmal bei Apotheker Pantzer im Löbenicht«, erklärte Carlotta, um allen Fragen zuvorzukommen, und schob Lina die Treppe hinauf. Erst im zweiten Stock, vor der Tür zu ihrer Schlafkammer, flüsterte sie ihr ein knappes »Danke« zu.
»Wieso?«, fragte Lina verwundert. »Du hast mir doch auch einen Gefallen getan.«
»Ist das nicht schön?« Die Hand auf der Türklinke, verharrte Carlotta im Halbdunkel des Treppenhauses. »Wir beide haben etwas Verbotenes getan und sind uns noch gegenseitig dankbar für die Lüge.«
»Wenn du deinen Christoph triffst, tust du doch nichts Verbotenes«, erwiderte Lina.
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