Das Bernsteinerbe
Vorwänden in das Schlafgemach. Mal brachte sie eine Kerze für den Kandelaber, mal eine weitere Decke, schließlich stellte sie einen Krug warmen Bieres auf die Truhe neben dem Bett. Der malzige Geruch verdrängte alsbald den zarten Duft des Rosenwassers, das Carlotta gleich nach ihrem Eintreffen zu Keplers Erfrischung um das Bett herum versprüht hatte. Noch bevor sie ihn erneuern konnte, erschien die Magd, um dem Physicus auf Marthes Anweisung hin einen heißen Stein zum Wärmen der Füße unter die Bettdecke zu schieben. Auch Hanna, Keplers Tochter, fand ständig neue Vorwände, ungebeten am Krankenlager aufzutauchen. Einmal stellte sie einen Krug Wasser auf den Tisch vor dem Fenster, ein anderes Mal kam sie, um die Hausschuhe zu richten, beim dritten Mal ging es ihr darum, den Mantel zum Ausklopfen zu holen.
»Damit wirst du hoffentlich einige Zeit beschäftigt sein«, knurrte Christoph die dürre Zwanzigjährige an. »Jedenfalls möchte ich dich in den nächsten zwei Stunden nicht mehr hier oben sehen. Schließlich liegt Vater im Bett, weil er dringend der Ruhe bedarf, und nicht, damit er sich angesichts des Trubels wie im Taubenschlag fühlt.«
»Aber …«, setzte seine Schwester an, um sogleich zu verstummen. Kurz hatte der alte Kepler die Augen geöffnet und die Augenbrauen zusammengezogen. Das genügte. Mit einem merkwürdigen Blick auf Carlotta, die neben Christoph am Fußende des Bettes stand, warf die Kepler-Tochter das offene braune Haar in den Nacken und verließ die Kammer hocherhobenen Kopfes.
»Der Mantel«, entfuhr es Carlotta, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, und wollte zum Haken eilen, das gute Stück zu ergreifen.
»Lass«, bat Christoph. »Das hat Zeit. Schließlich hängt er seit gestern hier, ohne dass sich jemand um sein Ausklopfen gesorgt hat.«
Vom Bett ließ sich ein tiefer Seufzer vernehmen.
»Was meinst du, mein Sohn?« Keplers Gemahlin faltete dem kranken Medicus behutsam die Hände über der Decke und erhob sich langsam von der Bettkante. Fahrig fuhr sie sich mit den fleischigen Händen über das schwarze Taftkleid. »Sollen wir heute nicht doch besser nach Doktor Lange schicken lassen? Der Leibarzt des Fürsten Radziwill kann uns sicher raten, wie wir weiter mit dem Ärmsten verfahren sollen.«
»Wozu?« Ungehalten begann Christoph, in dem schmalen Raum zwischen Bett und Fensterfront auf und ab zu gehen. Durch die beiden Fenster zur Schmiedegasse fiel tristes Novemberlicht herein. Die Morgensonne war grauen Wolken gewichen. Bald würde der nächste Schneeschauer einsetzen. Das laute Rumpeln und Rufen, das von der Gasse heraufdrang, verriet die Eile, mit der die Leute ihre Geschäfte erledigen wollten.
»Christoph, bitte«, mahnte Carlotta ihn zum Stillstehen. Es war schlimm genug, dass sie die Unruhe in Haus und Gasse nicht abstellen konnte.
»Schon gut.« Unsanft schob er sie beiseite, um sich mit verschränkten Armen vor seiner Mutter aufzubauen. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn war verblüffend. Christophs Körper war ebenso stämmig, wenn auch nicht so schwammig wie der seiner Mutter. Dafür hatten beide nahezu das gleiche Profil unter dem aschblonden Haar. Lediglich der Blick von Christophs grauen Augen wirkte entschlossener als der seiner Mutter. Seine Lippen wölbten sich, die Kerbe am Kinn grub sich tief ein.
»Reicht dir nicht aus, was Carlotta seit gestern getan hat?«, wandte er sich vorwurfsvoll an seine Mutter. »Sie mag zwar nur eine gelernte Wundärztin sein, doch ihr besonderes Gespür ist mit keinem Medizinstudium aufzuwiegen. Schließlich habe selbst ich trotz meiner langen Studienzeit im Ausland nicht annähernd so schnell und richtig handeln können wie sie, um Vater zu helfen. Apotheker Heydrich hat zudem keine Bedenken, was die Einnahme der Bernsteinessenz betrifft, die sie zur weiteren Behandlung empfohlen hat. Immerhin geht die Rezeptur auf Paracelsus zurück. Doktor Lange wird höchstens noch zum Aderlass raten, nur um überhaupt etwas Neues beizutragen. Dessen Durchführung aber wird er Carlotta anvertrauen. Und die hält zu Recht nichts davon, einen schwachen Patienten durch einen Aderlass noch weiter zu schwächen. Also, wenn du deinen Gemahl unbedingt ins Jenseits befördern willst, dann lass Doktor Lange holen und Vater mit einem Aderlass und sonstigem Unsinn quälen. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Christoph, du weißt doch …«, setzte die dickliche Frau in weinerlichem Ton an. Ihre
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