Das Bernsteinerbe
darin willkommen hieß. Gierig bohrte er sich tief in sie hinein. Nie zuvor hatte er diese Heftigkeit bewiesen. Die Knie wurden ihr weich, sie lehnte sich gegen seinen Leib, fühlte die Stärke seiner Glieder durch all die Lagen Mäntel und Jacken hindurch. Heiß strömte das Verlangen durch ihren Körper. Was gäbe sie darum, den November einfach wegzuzaubern und wie an jenem sonnigen, warmen Oktobertag mit Christoph in der einsamen Laube auf der Lomse zu sein!
»Carlotta, Liebes«, stöhnte er leise auf. »Lass uns weggehen aus der Stadt, irgendwohin, wo uns keiner kennt, und alles und jeden vergessen, der sich zwischen uns stellt.«
»Ach, Christoph!« Sanft schob sie ihn ein wenig von sich, um ihm in die Augen zu sehen und die Grübchen auf seinem Gesicht zu betrachten. Zärtlich tippte sie mit der Fingerspitze an seine Nase, ließ sie hinabgleiten zu den weichen Bögen um den Mund, verharrte auf der Kerbe am Kinn. Spielerisch schnappte er mit den Zähnen nach dem Finger, saugte an ihm wie ein kleines Kind an der Speckschwarte.
»Du bist und bleibst ein Kindskopf! Was reizt dich nur an der Welt der Quacksalber und Wunderheiler? Denk nur nicht, es wäre ein Zuckerschlecken, es mit ihresgleichen aufzunehmen. Wir beide sind nicht dazu geschaffen, auf den Jahrmärkten faule Zähne zu ziehen oder schwärige Wunden zu versorgen, ganz zu schweigen von den besonderen Künsten, die wir uns erst noch einfallen lassen müssen, um aus der Masse all der tausend Wunderheiler herauszustechen. Willst du vielleicht den Starstich mit verbundenen Augen üben? Oder soll ich die Zähne im Kopfstand ziehen lernen? Auch das Herumreisen mit einem klapprigen Fuhrwerk wird nicht immer eitel Sonnenschein sein. Außer unseren Habseligkeiten müssen wir darin eines Tages noch unsere riesige Kinderschar hineinpferchen.«
»Oh, immerhin träumst du schon von vielen, vielen Kindern mit mir! Schließlich wirst du als Ärztin wissen, was wir tun müssen, sie zu bekommen.« Frech grinste er sie an. Sie wurde glutrot.
»Statt so zu leben, mein lieber Christoph, ziehe ich es vor, dem Sturkopf von deinem Vater weiter die Stirn zu bieten. Langsam, aber sicher werden wir ihn doch davon überzeugen, dass wir beide füreinander und für eine gemeinsame Zukunft als Ärzte hier in Königsberg bestimmt sind. Nach allem, was er in den letzten beiden Tagen durchlitten hat, ist er auf gutem Weg, das zu begreifen.«
»Du kennst ihn nicht.« Von einem auf den anderen Moment verschwand Christophs spitzbübisches Schmunzeln, und sein Antlitz verdüsterte sich. »Schließlich springt er eher mitten im Winter in den Pregel und behauptet, das wäre die neueste Medizin, ehe er zugibt, sich in dir getäuscht zu haben. Ganz zu schweigen davon, dass er mich niemals im Leben die Tochter von Magdalena Grohnert heiraten lässt.«
»Letztens aber hast du noch ganz anders darüber gedacht«, wandte sie enttäuscht ein. »Oder hast du schon vergessen, dass wir an jenem denkwürdigen Montag vor etwas mehr als zwei Wochen deinen Vater um sein Einverständnis bitten wollten?«
»Das war vor dem Auftauchen der kurfürstlichen Dragoner hier im Kneiphof«, brauste Christoph auf, bevor er mit einem seltsamen Unterton hinzufügte: »Vergiss nicht, schließlich bist du nachher nicht mehr mit mir zu ihm gegangen.«
Einen Moment starrten sie einander an. Keiner von ihnen wagte auszusprechen, warum ihr Vorhaben damals gescheitert war: weil an jenem Tag Mathias zwischen sie getreten war.
Carlotta bebte innerlich. Wenn sie jetzt schwieg, war es vorbei. Was aber sollte sie sagen? Wo, zum Teufel, waren all die Worte und klugen Sätze, die sie sonst bei jeder Gelegenheit parat hatte? Sie brachte keinen Ton heraus.
»A-ab-ber-r«, stammelte sie nach einer halben Ewigkeit, um sofort in Tränen auszubrechen und hilflos gegen seine Brust zu sinken. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr reden, nicht mehr denken und vor allem nicht mehr kämpfen. Wenn er sie nicht nahm, dann gab es eben keine Zukunft, weder für sie beide noch für sie allein. Dann konnte sie ebenso gut in den Pregel steigen und sich den eisigen Wogen ergeben.
Es dauerte, bis Christoph aus der Starre erwachte, die Hand hob und sie schüchtern um ihre Schultern legte. Zaghaft begann er, sie zu streicheln. Sie presste sich gegen ihn, bis er sie fest in die Arme schloss.
»Das war aber auch«, redete er leise weiter, »bevor mein Vater hilflos vor deinen Augen zusammengebrochen ist und du allein ihn gerettet hast.
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