Das Bernsteinerbe
Unterlippe zitterte, die hellen Augen waren weit aufgerissen. Schon hob sie die gefalteten Hände und wisperte halblaut: »Was soll ich nur tun? Du weißt, was die Leute reden. Immerhin ist dein Vater kurfürstlich-preußischer Leibarzt. Undenkbar, ihn nur von einer einfachen Wundärztin behandeln zu lassen. Noch dazu von einer so blutjungen wie sie – und obendrein Magdalena Grohnerts Tochter! Du hast doch gehört, was seit Gerkes Tod über deren Bernsteinessenz gemunkelt wird. Ganz gleich, was Heydrich meint, aber die kann ich nicht guten Gewissens deinem Vater einträufeln!«
Ein mahnendes Schnauben von Seiten des Betts verriet, dass der alte Kepler trotz geschlossener Augen jede Silbe vernommen hatte.
Gebannt sah Carlotta zu Christoph, während sie den Bernstein an ihrem Hals umklammerte.
Der junge Medicus spürte ihre Verzweiflung. Flink stellte er sich neben sie, tastete unauffällig nach ihrer Hand und erklärte seiner Mutter: »Da Carlotta Vater das Leben gerettet hat, ist mir vollkommen gleichgültig, was die Königsberger reden. Schließlich solltest du dir auch überlegen, was dir wichtiger ist: Vaters Genesung oder das beifällige Nicken deiner Mitbürger auf seiner Beerdigung. Ich bin übrigens für Ersteres, auch wenn er kaum ein gutes Haar an mir lässt.«
»Also gut«, stimmte die verstörte Frau endlich zu. »Verzichten wir also auf Doktor Lange.«
»Du wirst sehen, Vater erholt sich dank Carlottas Behandlung viel schneller von dem Anfall. Schließlich haben ein paar Tage strikte Ruhe noch keinem geschadet.«
Sanft, aber bestimmt schob er Carlotta zur Tür hinaus. »Carlotta, Liebes, nimm es dir nicht zu Herzen.« In der Diele schloss er sie in die Arme.
»Schon gut. Ich weiß ja, es ist nur die Sorge um deinen Vater, die sie derart ängstigt. Ich kann ihr nachfühlen, was sie gerade durchmacht.«
»Meine tapfere kleine Wundärztin! Selbst jetzt noch bringst du Verständnis auf.« Christoph nahm ihr Gesicht in beide Hände und schenkte ihr ein stolzes Lächeln. Das Strahlen seiner Augen entschädigte sie reichlich für die Anfeindungen seiner Mutter und Schwester.
»Lass uns woanders hingehen. Wir müssen uns von all den Aufregungen erholen«, schlug er vor. »Schließlich können wir hier gerade ohnehin nichts tun.«
»Gegen etwas frische Luft hätte ich nichts einzuwenden.«
Hand in Hand stiegen sie die Treppe hinunter. In der geräumigen Diele half er ihr fürsorglich, die Heuke überzuziehen, reichte ihr beflissen Schal und Handschuhe. »Was hältst du von einem kleinen Imbiss? Schließlich habe ich einen Riesenhunger, und so, wie es aussieht, kriegt man bei Marthe heute nichts Gescheites auf den Teller. Dafür aber schuldet uns Pantzer noch eine gute Verköstigung.«
Mit einer galanten Verbeugung öffnete er die Tür und geleitete sie hinaus. Eine Windböe blies Schneeluft heran. Carlotta genoss es, nah bei Christoph zu sein. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Kaum schwenkten sie auf die Altstädter Langgasse ein, griff er nach ihrer Hand, schob sich noch dichter an sie heran. Böses Geschwätz mussten sie kaum fürchten. Kaum begegnete ihnen ein bekanntes Gesicht. Bis sie das Löbenichter Tor erreichten und von dort über die Krummegrube den Münchshof betraten, waren nur wenige Fuhrwerke, Karren oder Menschen unterwegs. Dabei ließ das Schneetreiben weiter auf sich warten, auch der Wind flachte deutlich ab. Die dünne Schneedecke auf dem Straßenpflaster schmolz bereits.
»Riechst du den Schnee?«, fragte Carlotta und blieb unweit des trutzigen Malzbrauerbrunnens stehen. Selbst an diesem markanten Punkt des Löbenichts fehlten an diesem Tag die Tratschweiber. Carlotta reckte die Nasenspitze in die Luft. »Ich liebe es, die Kälte auf den Wangen zu spüren.«
»Und ich liebe es, deine Wangen zu küssen.« Flugs stand Christoph vor ihr und begann, ihre kühle Haut mit hitzigen Küssen zu bedecken.
»Doch nicht mitten auf der Straße«, protestierte sie leise.
»Wer soll uns sehen? Schließlich ist das alte Kräuterweib dahinten froh, wenn es noch die Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen kann. Und die schwarze Katze da vorn willst du sowieso nicht sehen. Wie ich dich kenne, hältst du mir sonst nur einen Vortrag, was ich tun muss, um das von ihr drohende Unheil zu vertreiben.«
Abermals küsste er sie, gab sich schließlich nicht mehr allein mit ihren Wangen zufrieden, sondern presste seinen Mund auf den ihren, bis sie ihn endlich öffnete und seine Zunge
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