Das Bernsteinerbe
schleifend als führend, kamen sie nur langsam voran.
Endlich erreichten sie die düstere kleine Kammer direkt neben dem Laboratorium. An der Stirnseite wurde sie durch ein winziges Fenster erhellt. Darunter befand sich eine schmale Pritsche, auf die sie Kepler legen konnten.
»Er braucht frische Luft.« Sogleich riss Carlotta das Fensterchen auf. Kühl blies die Novemberluft herein. Ungeachtet dessen zog die junge Wundärztin dem Patienten den Rock aus und lockerte den Hemdkragen. Sie fächelte ihm Luft zu und bat Friederike um einen Becher eiskalten Wassers.
»Nehmt es möglichst direkt aus dem Brunnen hinten in Eurem Hof«, wies sie die Apothekertochter an. »Es kann nicht kalt genug sein.« An Christoph gewandt, sagte sie: »Bring mir ein Kissen. Wir müssen den Kopf deines Vaters höher betten.«
Flink knüllte sie den Rock zusammen und schob ihn dem Alten unter den Schädel. Die Augen fest geschlossen, atmete er bald schon ruhiger. Das hochrote Gesicht allerdings kündete weiterhin von seinem schlechten Zustand. Carlotta legte ihm die Hand auf die Stirn und flüsterte sanft auf ihn ein.
»Haltet durch, verehrter Doktor, gleich geht es besser. Euer Sohn ist bei Euch. Euch wird nichts geschehen.«
»Was denkt Ihr, hat er?« Zaudernd verharrte Heydrich im Türrahmen, wagte kaum, sich seinem kranken Gast zu nähern. »Nicht auszudenken, wenn er ausgerechnet hier, in meiner Apotheke …«
»So schlimm ist es nicht«, erklärte Carlotta. »Sein Herz schlägt zwar rasend schnell, und er hat Not, ausreichend Luft zu bekommen. Doch mir scheint, es ist nicht der erste Anfall dieser Art bei ihm. Wenn es mir gelingt, das Pochen seines Herzens zu beruhigen und ihm seine Angst vor der Atemnot zu nehmen, wird es ihm alsbald bessergehen. Auch die Kühle hier in der Kammer tut ihm gut. Ach, da kommt Eure Tochter mit dem Wasser.«
Auch Christoph tauchte mit zwei dicken Federkissen in der Hand auf, dicht gefolgt von den beiden anderen Apothekertöchtern.
»Eine schöne Bescherung«, raunte Else, die Jüngste, und bekreuzigte sich hastig, während Minna versuchte, über ihre Schulter hinweg auf den Medicus zu äugen.
»Bitte lasst uns allein«, sagte Carlotta, den Becher Wasser in der Hand. »Es ist viel zu eng hier. Außerdem gibt es nichts weiter zu tun, als zu warten.«
Murrend folgten die Heydrich-Damen der Aufforderung. Selbst der Apotheker verschwand in sein Laboratorium. Als Christoph auch Anstalten machte, den Raum zu verlassen, hielt sie ihn zurück.
»Heb seinen Kopf, damit ich ihm das Wasser einflößen kann.« Geschickt öffnete sie dem Medicus die Lippen und kippte das kalte Wasser hinein. »Trinkt schnell, das wird Euch helfen!«
Folgsam tat Kepler, wie ihm geheißen. Sie legte ihm die zweite Hand flach auf die Stirn. Mit jedem Schluck schien er an Ruhe zu gewinnen. Als der Becher geleert war, bettete sie ihn mit Christophs Hilfe in die Kissen zurück und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. »Ihr solltet noch eine Zeitlang ruhig hier liegen bleiben.«
Kaum merklich nickte er. Zusehends schwand die ungesunde Röte aus seinem Antlitz, die Adern an den Schläfen schwollen ab. Selbst die buschigen Augenbrauen entspannten sich. Bald ging sein Atem gleichmäßig, er schloss die Lider. Die Brust hob und senkte sich in einem gesunden Rhythmus.
»Du hast ihm das Leben gerettet.« Vorsichtig ließ Christoph sich neben ihr nieder und fasste nach ihrer Hand. »Ich bin stolz auf dich.«
»Nur stolz?« Sie drehte sich zu ihm um. »Bist du sicher?«
Forschend sah sie ihn an. Lang schon waren sie einander nicht mehr so nah gewesen. Erfreut spürte sie ein Prickeln in ihrem Leib. Christophs blasses Gesicht wurde noch eine Spur heller, die fleischigen Lippen erstaunlich schmal. Tief grub sich die Kerbe auf seinem Kinn ein. Sie wollte mit den Fingern seine Wange berühren, doch sie kam nicht weit. Auf einmal beugte er sich ihr entgegen, schlang die Arme um sie und küsste sie mitten auf den Mund. Zunächst wollte sie sich wehren, die Lippen fest zusammenpressen oder zumindest leise protestieren. Dann aber siegte das Verlangen, endlich wieder seine Wärme auf ihrer Haut zu spüren, seinen Geruch einzuatmen und seine Lippen zu schmecken, und sie gab sich seinem Drängen hin. Erst ein deutliches Räuspern riss sie auseinander. Beschämt rückten sie voneinander ab. Der alte Kepler öffnete die Augen und blickte zwischen ihnen hin und her.
»Was habt Ihr getan?«, fragte er mit heiserer Stimme und schob sich höher
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