Das Bernsteinerbe
geerbten Anmaßung hatte sie nicht im Traum daran gedacht, jemand könnte sie an Mathias’ Seite erkennen, gar ihren gemeinsamen Gang durch die Stadt am helllichten Tag derart missdeuten, wie Farenheid es getan hatte. Von Heydrichs bösem Ansinnen ganz zu schweigen. Um da wieder herauszukommen, blieb eigentlich nur eine Wahl: Sie musste für ihr Erbe und ihr Glück kämpfen!
Sie umfasste den Bernstein, drückte ihn fest gegen die Brust und sandte ein inniges Flehen um Beistand gen Himmel.
24
A n den erschrockenen Gesichtern las Carlotta ab, wie wenig die Mutter und Helmbrecht mit ihrem Auftauchen gerechnet hatten. Dabei war sie nicht eben leise die Treppe in das Obergeschoss hinaufgelaufen, hatte auch die doppelflügelige Tür zur Wohnstube polternd aufgestoßen.
Eng umschlungen hielten die beiden einander in den Armen, in ein vertrauliches, sehr ernstes Gespräch vertieft. Sofort ließ Philipp Helmbrecht von Magdalena ab, trat einen Schritt zurück und räusperte sich in die Faust. Die Mutter drehte ihr schmales Gesicht zu Carlotta. Es war besorgniserregend blass. Aller Glanz war aus den leicht schräg stehenden, smaragdgrünen Augen gewichen. Die dünnen Lippen wirkten farbloser noch als sonst, das spitze Kinn ragte weit hervor.
»Gut, dass du kommst, mein Kind«, sagte sie heiser. »Ich muss dringend mit dir reden.«
In wenigen Schritten stand sie dicht vor ihr und fasste sie an den Händen. Seltsam berührt, schaute Carlotta über ihre Schulter zu Helmbrecht. Auch sein Antlitz war blass, die Bernsteinaugen trüb. Er schnaufte, griff sich an den Kopf.
»Was ist geschehen?«, fragte sie und führte Magdalena zum Tisch. »Wenn ich euch beide hier so stehen sehe, denke ich, es wird höchste Zeit, dass ihr die Stadt verlasst und den Winter außerhalb Königsbergs verbringt. War dies nicht Euer Vorschlag, mein lieber Helmbrecht? Ihr hört, ich stehe voll und ganz hinter Euch.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, stimmte Magdalena zu. »Doch nun gibt es ein neues Problem.«
Sie sah zu Helmbrecht. Ein Schnaufen entfuhr dessen Mund, angestrengt hielt er den Blick gesenkt.
»Stell dir vor, Liebes«, fuhr sie fort. »Unser guter Freund rät mir auf einmal davon ab, den Kneiphof zu verlassen. Verstehst du das? Dabei ist er eigens Ende Oktober hierher zurückgekehrt, um mich genau dazu zu überreden!«
Der Leipziger Kaufmann starrte weiterhin zu Boden, die Mutter ließ ihn nicht aus den Augen. Carlotta brachte das nicht mit der Vertrautheit zusammen, die die beiden eben noch umgeben hatte.
»Es ist nicht mehr so einfach, wie Ihr Euch das vorstellt«, begann Helmbrecht und ging einige Schritte durch die Wohnstube. Durch die drei hohen Fenster zur Straßenseite fiel das milde Novembersonnenlicht herein. Vereinzelt klangen Rufe und das Räderrollen von Fuhrwerken herauf.
Endlich blieb Helmbrecht stehen, betrachtete das Bild des ehrwürdigen Ahns Paul Joseph Singeknecht. Streng schaute der in seinem schwarzen Gewand mit dem steifen, weißen Kragen auf sie alle herunter.
»Wieso ist es inzwischen nicht mehr so einfach, Mutter aus der Stadt fortzubringen?«, fragte Carlotta und fürchtete bereits die Antwort: Das Auftauchen der fremden Blonden hatte alles verändert! Lina hatte recht gehabt. Seit die Fremde da war, wollte Helmbrecht die Mutter nicht mehr heiraten, geschweige denn, ihr aus der Stadt heraushelfen. Er stand ganz in ihrem Bann, wie das Auftauchen der beiden in Pantzers Apotheke bewies. Wahrscheinlich hatte die Fremde auch keine lauteren Absichten verfolgt, als sie Pantzer bat, die Bernsteinessenz zu untersuchen.
»Wenn Ihr jetzt abreist, könnten böswillige Zungen das als Schuldeingeständnis deuten«, sagte er leise.
»Was?« Verwirrt starrte sie ihn an. Daran hatte sie nicht im Entferntesten gedacht. »Das sehe ich anders. Doch gut. Wir schaffen das auch allein«, erklärte sie entschlossen. Aufgeregt knetete sie die Finger, trat ans Fenster und sah hinaus. In großen Schritten eilte Steutner unten über die Straße. In der Hand hielt er einige Bogen hellen Papiers, vermutlich die neueste Ausgabe des Europäischen Mercurius. Ob darin Nachrichten über das Wohlergehen von Hieronymus Roth standen? Hoffentlich saß er bereits in der Feste Kolberg. Damit wäre zumindest Mathias schon fort aus der Stadt, und sie müsste Helmbrecht seinetwegen nicht mehr zum Brief an Tante Adelaide überreden. Gut, dass somit eine Aufgabe bereits erledigt war. Erleichtert wandte sie sich wieder in die
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