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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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schauen, ob Ihr überhaupt losfahren könnt«, riet sie. »Mir scheint, derzeit kommt Ihr zu Fuß weiter.« Sie zeigte auf den dick in Decken gehüllten Fischer, der sich bereits ein gutes Stück vom Ufer entfernt hatte. Vorsichtig prüfte er einen Schritt nach dem anderen, bevor er weiter hinausging. »Manchmal muss man viel Geduld haben, wenn man vorankommen will.«
    Sie wandte sich ab. Nach den Erlebnissen im Schankraum verspürte sie nicht die geringste Lust auf eine Unterhaltung. Er aber versperrte ihr den Weg.
    »Von Hohoff habt Ihr nichts zu befürchten.« Er schob den Schal so weit vom Kinn, dass sie das zaghafte Lächeln um seinen Mund erkennen konnte. »Seine Unverschämtheiten dürfen Euch nicht beunruhigen. Er ist ein Löbenichter durch und durch. Feige schlägt er immer erst dann zu, wenn der Gegner längst am Boden liegt.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es schon so schlimm um mich steht. Am Boden seht Ihr mich also liegen? Hoffentlich dauert Euch mein Anblick, und Ihr helft mir wieder auf die Beine.«
    »Verzeiht!« Thieslers Gesicht glühte trotz der eisigen Kälte. »So habe ich das nicht gemeint. Nicht Ihr liegt am Boden, sondern …«
    »Schon gut.« Sie legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Aus jedem Eurer Worte spricht der geborene Altstädter. Von klein auf hat man Euch gelehrt, dass die Löbenichter tumbe Ochsen und die Kneiphofer gerissene Spitzbuben sind. Keiner von beiden kann einem hochwohlgeborenen Altstädter wie Euch das Wasser reichen.«
    Einen Moment sah er sie bestürzt an. Dann aber wurde er sich des Spotts bewusst, der in ihren Worten steckte. Erleichtert lachte er. »Warum auch?«
    Belustigt sah er auf sie hinab. Er war gut eine halbe Elle größer als sie, wirkte durch seine dünnen Gliedmaßen und den schmalen Rumpf allerdings noch länger. »Sind wir Altstädter uns nicht selbst genug? Was ist mit unseren Nachbarn schon anzufangen? Die Löbenichter sind zu schwerfällig im Hirn und zu langsam im Tun. Und Ihr aus dem Kneiphof macht uns mit Eurem aufbrausenden Gemüt nur Ärger, wie man an der Geschichte mit Hieronymus Roth mal wieder sieht. Täusche ich mich, oder geht das nicht schon seit gut dreihundert Jahren so? Wann immer wir Altstädter Frieden mit jemandem schließen wollen, weil das Kriegführen auf Dauer nur Schaden bringt, verhindern erst die Löbenichter durch ihr Zögern und dann die Kneiphofer durch ihr aufmüpfiges Auftreten, dass wir alle gemeinsam vom Verjagen unserer Feinde profitieren.«
    »Das nennt man wohl Schicksal.« Carlotta war verwirrt. Bislang hatte sie den Studenten wohl völlig falsch eingeschätzt. Der Rauch des Bernsteins, der nicht aus ihrer Erinnerung weichen wollte, musste ihr noch immer die Sinne vernebeln.
    »Nennt es, wie Ihr wollt, jedenfalls leiden wir Altstädter sehr darunter.« Sein fröhliches Gesicht sprach seinen Worten hohn. »So sehr übrigens, dass ich beschlossen habe, meine Studien mindestens die nächsten zwei Jahre außerhalb meiner Heimat fortzusetzen. An der Albertina wird es mir allmählich zu eng.«
    Zustimmung heischend zwinkerte er ihr zu. Schon wollte sie auf den leichten Tonfall mit einer nicht minder heiteren Bemerkung eingehen, da stutzte sie.
    »Deshalb also habt Ihr vorhin voller Sehnsucht von der Seefahrt gesprochen.«
    Aufmerksam musterte sie sein Gesicht. Für einen Studenten, der gewiss seit einiger Zeit nicht mehr zu den Pennälern zählte und sich bereits über die vermeintliche Enge an der Kneiphofer Hochschule beklagen zu müssen meinte, wirkte es erstaunlich unschuldig. Die vom Frost geröteten, bartlosen Wangen und die nicht minder rot gefärbte Nase schienen ihr fast das Bemerkenswerteste daran. Die grauen Augen und das aschblonde Haar, von dem sie nur einige wenige Spitzen erahnen konnte, erinnerten sie an Christoph. Auch ihm war es vor zwei Jahren an der Albertina zu eng geworden. Auf den Spuren der großen Wissenschaftler hatte es ihn in den Süden gezogen. Männer hatten es einfach! Angestrengt betrachtete sie die vom Schnee durchnässten Stiefelspitzen. Längst ließ die Kälte die Zehen zu Eis gefrieren.
    »Erlaubt mir einen Rat, lieber Thiesler, sozusagen von aufmüpfiger Kneiphoferin zu hochwohlgeborenem Altstädter: Sucht die ersehnte Weite möglichst jenseits des Frischen Haffs. Das Wasser hier ist viel zu seicht und ohne Tiefen. Auch die nahen Ufer lassen Euch allzu schnell wieder an enge Grenzen stoßen.«
    Zur Untermauerung wies sie mit dem Arm über das nebelverhangene Haff. Zwar

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