Das Bernsteinerbe
ich kennen Lina von unserer ersten Zeit hier im Kneiphof, als wir noch unten im Grünen Baum gewohnt haben. Damals schon hat Lina uns als Magd beigestanden. Es ist ein Wink des Schicksals, sie jetzt wiedergefunden zu haben.« Sie hielt inne, plötzlich übermannt von der Erinnerung, wie ihr Vater damals, kurz nach ihrer Ankunft in Königsberg, gestorben war.
Als ahnte Lina ihre Gedanken, hob sie den Blick. Carlottas Finger schlossen sich fester um den Bernstein. Einen Moment sahen die Mädchen einander an. Dabei blitzte etwas in Linas grünblauen Augen auf, was Carlotta tief ins Herz traf. Verwirrt wandte sie sich von neuem der Köchin zu. Von ihr erntete sie jedoch nur ein aufgebrachtes Schnauben.
Sie unternahm erneut einen Anlauf. »Hast du nicht bei Linas Auftauchen mehrmals niesen müssen?« Carlottas Blick wich nicht von Hedwigs geliebtem Gesicht, bis die Köchin beiseitesah. Gegen ihr Profil redete Carlotta weiter. »Du weißt doch selbst, was das bedeutet: Wer montags niest, dem wird in dieser Woche etwas Gutes geschehen. Warum willst du Linas Auftauchen nicht als dieses Gute begreifen? Bislang haben alle ihre Handgriffe im Haus gezeigt, wie geschickt sie anzupacken versteht. Und das mit der Zitrone«, sie zögerte einen Augenblick, sah noch einmal auf Lina, drehte sich dann entschlossen Hedwig zu und ließ im selben Augenblick den Bernstein los, »das mit der Zitrone ist übrigens eine Idee von mir. Schließlich geht es nicht nur um blanke, sondern vor allem um richtig saubere Fensterscheiben. Unlängst habe ich über die Idee mit dem Zitronensaft gelesen und Lina gebeten, es einfach mal auszuprobieren. Auf Anhieb hat es geklappt. Stell dir doch nur einmal vor, ausgerechnet unser Haus so nah bei der Krämerbrücke hätte blinde Scheiben!«
Triumphierend wies sie auf die glänzende, saubere Scheibe. Der angenehme Zitrusduft hing weiter in der Luft. Nicht einmal der Geruch nach Gebratenem, der von der Langgasse heraufzog, kam dagegen an.
»Ein teurer Spaß«, knurrte Hedwig und reichte ihr unter einem weiteren Schnauben die Zitronenhälfte. »Übrigens kann man auch aufgeschnittene Zwiebeln dazu benutzen. Das kostet erheblich weniger. Ich bin gespannt, was deine Mutter von deiner großartigen Idee hält. Spätestens, wenn sie die beachtlichen Kosten für die neue Art, Fenster zu putzen, in den Haushaltsbüchern entdeckt, wird sie nicht mehr entzückt sein. Aber das darfst du ihr dann selbst erklären.«
Ohne Lina eines weiteren Blicks zu würdigen, nickte sie Carlotta zu und watschelte aus der Stube. Der Holzrahmen zitterte von dem Schwung, mit dem sich die Tür hinter ihrem breiten Hintern schloss. Langsam verklangen ihre schlurfenden Schritte über die Treppe nach unten.
6
E ine beredte Stille senkte sich über die Wohnstube, selbst die Geräusche von der Straße schienen zu verschwinden. »Danke«, sagte Lina schließlich kaum hörbar.
»Ach was«, wehrte Carlotta ab. In der Hand knetete sie die Zitronenhälfte, spürte den spärlichen Rest des Saftes auf der Haut. Was hatte sie da gerade getan? Ungläubig blickte sie zu Lina, brauchte einen Moment, sich auf das Geschehene zu besinnen. Ein Bild von früher schob sich dazwischen. Damals hatte Lina sie wegen des gerade verstorbenen Vaters getröstet, versucht, sie auf andere Gedanken zu bringen. Hatte sie Lina deswegen so vehement in Schutz genommen?
»Wo bist du eigentlich in den letzten Jahren gewesen?«, fragte sie, um sich von den schmerzhaften Erinnerungen abzulenken. »Von einem Tag auf den anderen warst du damals aus dem Grünen Baum verschwunden. Die Wirtin hat mir nichts sagen wollen, ganz gleich, wie inständig ich sie darum gebeten habe.«
»Du hast nach mir gefragt?« Erstaunt richtete Lina sich auf. Vor Überraschung bemerkte sie nicht, dass sie in die frühere, vertraute Anrede zurückgefallen war, genau wie damals, als sie Carlotta eher wie eine kleine Schwester denn wie eine höherstehende Kaufmannstochter behandelt hatte. Dann aber ging ein Ruck durch ihren stämmigen Körper, ihre Miene verschloss sich. »Da gibt es nichts zu sagen«, erklärte sie knapp. »Besser, ich mache mit den Fenstern weiter. Allzu lange reicht das Licht nicht mehr aus.«
Sie ging zum Fenster. Rufe von der Straße wehten herauf, kündeten von dem geschäftigen Leben dort unten. Lina zog das Tuch von ihrer Schulter, pfefferte es ins Wasser, wrang es aus und widmete sich den Scheiben auf dem zweiten Flügel.
»Natürlich musst du mir nichts erzählen«,
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