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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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auf den Schmutz. In zähen Bächen rann er nach unten. Der frische Geruch der Zitrone zog durch die Wohnstube.
    »Bist du wahnsinnig? Eine halbe Zitrone – nur fürs Putzen?« Carlotta stürzte sich auf Lina und entriss ihr die Frucht. Viel Saft war nicht mehr drin. Verblüfft starrte die Magd sie an. »Aber warum? Ich habe doch nur …«
    »Weißt du, was eine solche Zitrone kostet?«, fuhr sie ihr über den Mund. Beschämt senkte Lina den Kopf. Glutrot leuchteten ihre Wangen. Als sie die halb entblößten Arme hob, um das Gesicht mit den Händen zu bedecken, stach Carlotta die spröde, von harter Arbeit gebeutelte Haut ins Auge. Auf einmal dauerte sie die andere, ihr unbeherrschter Ausbruch tat ihr leid. »Ist schon gut.« Tröstend strich sie ihr über den Kopf, ließ die Hand auf der Schulter ruhen. Lina schniefte. Wortlos reichte Carlotta ihr ein Taschentuch. Vorsichtig legte sie die Zitronenhälfte auf den Tisch und hieß Lina, sich zu setzen.
    »Auch wenn du meine Mutter für reich hältst, ist das kein Grund, die Fenster mit reinem Zitronensaft zu wischen. Wie viele Zitronen willst du dafür kaufen? Wie kommst du überhaupt auf diese eigenartige Idee?«
    Lina schluchzte. Carlotta wartete, unsicher, ob sie nicht zu schroff reagiert hatte. Indes wurden auf dem Flur Schritte laut. Der eigenartige Rhythmus ließ gleich erkennen, dass es sich nur um Hedwig, die Wirtschafterin, handeln konnte. Zielstrebig näherten sich die Schritte, die Tür schwang auf. Es blieb keine Zeit, die Zitrone zu verstecken. So gut es ging, barg Carlotta sie in ihren Händen. Schuldbewusst sah sie mit Lina zusammen Hedwig entgegen.
    »Hier steckst du also!« Die roten Apfelbäckchen der Köchin strahlten, die runden Augen glänzten, als sie die beiden Mädchen erspähten. Schnaufend schob sie sich herein, kam zum Tisch, legte Carlotta die Hand auf die Schulter und tätschelte sie liebevoll. »Kühl ist es hier drinnen!« Sie entdeckte das offene Fenster und watschelte schwer atmend dorthin. Bevor sie zum Riegel griff, betrachtete sie eingehend die Scheibe. »Die Fenster nochmals zu putzen, ist eine gute Idee.« Ihre Nase schnupperte angestrengt, während die runden Augen prüfend über die Scheibe wanderten. »Wonach riecht das nur?« Fragend wandte sie sich um, sah von einer zur anderen, dann wurde ihre Miene starr. Sie hatte die Zitronenreste in Carlottas Händen entdeckt. »Ist es denn die Möglichkeit – eine echte Zitrone! Seid ihr noch zu retten?«
    Flinker, als man es ihrer behäbigen Gestalt zugetraut hätte, huschte sie zum Tisch und schnappte sich die reichlich ausgepresste Fruchthälfte. »Das hätte ich mir gleich denken können, dass Lina dich auf dumme Gedanken bringt.« Sie schüttelte das mächtige Haupt und stemmte die kurzen Arme auf die ausladenden Hüften. »Gleich bei ihrem Auftauchen habe ich deine Mutter gewarnt, wir sollen lieber noch warten, bevor wir sie uns fest ins Haus holen.« Verächtlich nickte sie mit dem fleischigen Kinn gen Lina. »Der Montag ist vergänglich wie der Mond, schließlich trägt er von dem seinen Namen. An einem solchen Tag beginnt man nichts Neues, vor allem stellt man kein Gesinde ein, ganz zu schweigen davon, dass alles, was einem am Montag widerfährt, für die restliche Woche gilt. Nach dem Ärger mit Milla letzten Montag war mir klar, dass der sich auch mit der neuen Magd fortsetzt. Wie recht ich habe, sehen wir jetzt.«
    Abermals schnaubte sie. Finster verzog sie Augenbrauen, Nase und schmallippigen Mund zu einer Grimasse. »Und das alles nur, weil sie zu faul ist, Schlämmkreide in Wasser zu lösen und auf die Scheiben zu geben. Das hat bislang noch immer gereicht, um die Fenster zum Strahlen zu bringen. Eigentlich ist es sowieso eine törichte Idee, heute Fenster zu putzen. Der dritte Tag im Oktober ist ein Schwendtag. Ich denke mal, du weißt«, vorwurfsvoll sah sie Lina an, »was das bedeutet?«
    Über der Tirade war die neue Magd in sich zusammengesunken. Auch wenn Carlotta Hedwig wie eine weise Mutter verehrte, so mochte sie ihr verächtliches Verhalten Lina gegenüber nicht dulden. Unwillkürlich griffen ihre Finger nach dem Bernstein. Das ersehnte Gefühl der Stärke beflügelte sie. Dicht stellte sie sich vor die Köchin. »Man kann das alles auch genau andersherum sehen: Die Vorsehung hat uns Lina nicht von ungefähr am letzten Montag ins Haus geweht, gerade in dem Moment, da uns aufgefallen ist, dass wir noch gut eine weitere Magd brauchen. Vergiss nicht, Mutter und

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